Entsetzen nach Sturm auf den US-Kongress „Eine Revolte, angezettelt vom Präsidenten der Vereinigten Staaten“

Am Tag nach dem Sturm von Anhängern des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump auf das Kapitol ist das Entsetzen in den USA und weltweit groß. Doch der Mob konnte nicht verhindern, dass der Kongress Joe Bidens Wahl zum neuen Präsidenten schließlich bestätigte.

Entsetzen nach Sturm auf den US-Kongress
Foto: dpa/Probal Rashid

Drei Stunden und 32 Minuten nach Mitternacht ist es endlich vorbei. Vom Podium des Senats fragt Mike Pence, kraft seines Amtes als Vizepräsident der Chef der Kammer, ob jemand Einwände habe, wenn man nun die Stimmen der Wahlleute Vermonts beglaubige. Da es nach dem Alphabet geht, ist der kleine Neuengland-Staat spät an der Reihe. Einwände gibt es keine, die drei Elektoren zählen für Joe Biden, so wie es die Wähler Vermonts am 3. November entschieden hatten. Damit überschreitet der Sieger des Votums auch bei der Prozedur im Kongress, die eigentlich reine Formsache ist, die Schwelle von 270 Stimmen. Was die Mehrheit bedeutet, endgültig und nicht mehr anzufechten. Anschließend liest Pence die Formel vom Blatt, mit der amerikanische Vizepräsidenten seit jeher alle vier Jahre, nach feierlicher Sitzung des Parlaments, die Wahl des neuen Staatschefs bestätigen. Sinngemäß sagt er, dass er Biden nunmehr als rechtmäßig bestimmten Präsidenten bezeichnen könne. Es ist der letzte Akt eines Dramas, das den Kongress auf Capitol Hill stundenlang im Chaos versinken ließ. 

       Am frühen Mittwochnachmittag hatten Anhänger Donald Trumps nicht nur die Freitreppe vor dem Kapitol gestürmt und eine völlig überforderte Parlamentspolizei denkbar schlecht aussehen lassen, sondern sich auch Zugang zu dem Gebäude verschafft. Gegen 14.10 Uhr Ortszeit splittert Glas. Ein Mann, bewaffnet mit einem Plastikschild, schlägt im Parterre ein Fenster ein. Die Ersten, die durch das Fenster klettern, öffnen von innen die Türen, sodass Hunderte folgen können. Ein Polizist, der die Eindringlinge zu stoppen versucht, gibt einen Schuss ab, nachdem seine Anweisungen nicht befolgt worden waren. Nach Berichten von Augenzeugen verfehlt er den Angreifer, der am bedrohlichsten auf ihn zustürmt. Stattdessen trifft er eine Frau, die später, von Rettungssanitätern ins Krankenhaus gebracht, für tot erklärt wird.

      Die Bilder, die an diesem Nachmittag des 6. Januar um die Welt gehen, lassen die demokratische Abgeordnete Abigail Spanberger von einem Totalversagen sprechen. „So etwas erlebt man nur in gescheiterten Staaten“, wettert sie. „Das ist es, was zum Tod der Demokratie führt.“ Manche in den Reihen des Mobs benehmen sich wie Eroberer, die eine feindliche Festung eingenommen haben, etwa der Hüne mit entblößtem, stark behaartem Oberkörper und einer Fellmütze samt Hörnern, der sich in Triumphpose fotografieren lässt. Andere spazieren wie Touristen durch die prächtigen Hallen mit ihrem Marmor und ihren Denkmälern, nur dass sie Fahnen mit der Aufschrift „Trump 2020“ tragen, einige auch die Flagge der im Bürgerkrieg besiegten Südstaaten. Einer setzt sich grinsend in den Sessel von Nancy Pelosi, der Chefin des Repräsentantenhauses. Ein anderer erbeutet ein wappengeschmücktes Rednerpult und trägt es wie eine Trophäe davon. Schreibtisch-Schubladen werden durchwühlt, Büroräume verwüstet.

     Paul Kane, ein Reporter der „Washington Post“, schildert aus seiner Perspektive, von der Pressetribüne des Senatssaals, wie die Attackierten die Attacke erlebten. Gegen 14.30 Uhr habe die Polizei alle zum Verlassen der Kammer aufgefordert. Dann seien sie, Senatoren, deren Assistenten sowie Journalisten, zu Fahrstühlen geführt worden, in denen sie ins Kellergeschoss fuhren. Durch einen Tunnel habe die Gruppe das Russell Office Building erreicht, eines der Bürogebäude rings ums Kapitol. Man habe nach Drehbüchern für den Notfall gehandelt, wie sie nach dem Terrorangriff am 11. September 2001 geschrieben wurden, fügt Kane noch hinzu. Der Mitarbeiter eines Senators, der die Evakuierung verpasst hatte und im Haupttrakt geblieben war, verbarrikadierte die Tür seines Zimmers mit einer Eisenstange. Minutenlang, erzählt er später, hätten Eindringlinge versucht, die Tür aufzubrechen, zum Glück ohne Erfolg. 

     Wie es so weit kommen konnte, wird mit Sicherheit bald eine Untersuchungskommission beschäftigen. Normalerweise sind schon die Treppen vorm Kapitol für Demonstranten tabu, und wer sich unbefugt Zugang zum Inneren verschafft, muss mit sofortiger Festnahme rechnen. Nun aber kursieren in sozialen Medien Aufnahmen, die das Gefühl vermitteln, dass Polizisten, statt resolut einzugreifen, eher zuschauten, einige womöglich wohlwollend. Ein Foto zeigt einen Beamten, der ein Selfie von sich und einem der Provokateure macht. Ein Video dokumentiert, wie Uniformierte Metallzäune aus dem Weg räumen. Mag sein, dass eine überrumpelte Polizeitruppe, deren Kommandeure das Gefahrenpotenzial sträflich unterschätzten, zu de-eskalieren versuchte. Kim Dine, von 2012 bis 2016 Chef der Capitol Police, kann sich die Unterlassungssünden dennoch nicht erklären. „Es war, als würde man sich einen Horrorfilm anschauen“, sagt er in einem Interview. „Wir trainieren doch täglich dafür, dass so etwas nicht passiert.“ Auf alle Fälle sei es ein schwerer Fehler gewesen, die Marodeure überhaupt so nah ans Kapitol heranzulassen.

      DeRay McKesson, einer der Sprecher der Bewegung „Black Lives Matter“, sieht in Stereotypen in den Köpfen mancher Polizisten einen der Gründe für das Desaster. Hätten anstelle der überwiegend weißen Anhänger Trumps Menschen mit dunkler Haut das Gebäude gestürmt, hätten sie nicht mit Nachsicht rechnen können, glaubt er. „Diese Leute saßen auf dem Schreibtisch der Parlamentspräsidentin! Schwarze und braune Menschen hätten es nicht mal bis zur ersten Türschwelle geschafft.“ Auch Benjamin Crump, ein Anwalt, der seit Jahren Opfer exzessiver Polizeigewalt vertritt, spricht von Doppelmoral. „Hätten Schwarze getan, was diese weißen Terroristen getan haben, können Sie sich die Reaktion vorstellen? Man hätte alles eingesetzt, Tränengas, Pfefferspray, alles, und zwar massiv.“   

     Als die Politiker nach fast sechsstündiger Zwangspause zurückkehren, lässt die Tatsache, dass sie von Bewaffneten eskortiert werden, an ein Land denken, in dem gerade ein Putschversuch niedergeschlagen worden ist. Mitt Romney meldet sich zu dem Zeitpunkt mit Anmerkungen zu Wort, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen. Was geschehen sei an diesem Tag, sei auf den verletzten Stolz eines selbstsüchtigen Mannes zurückzuführen, schimpft der Senator aus Utah. Donald Trump habe die Wut seiner Anhänger geschürt, indem er sie zwei Monate lang wissentlich falsch informierte. „Was heute passiert ist, war eine Revolte, angezettelt vom Präsidenten der Vereinigten Staaten.“

     Und Mike Pence, der Mann im zweithöchsten Staatsamt, der Trump vier Jahre lang mit einer bisweilen an Selbstverleugnung grenzenden Loyalität gedient hatte, hält eine Zwei-Minuten-Rede, in der von serviler Beflissenheit nichts mehr zu spüren ist. Dies sei ein schwarzer Tag in der Geschichte des Kapitols gewesen, beginnt er, um kämpferische, für seine Verhältnisse ungewohnt kämpferische, Sätze folgen zu lassen. „An jene, die heute in unserem Kapitol Chaos stiften: Ihr habt nicht gewonnen. Die Gewalt gewinnt nie. Die Freiheit gewinnt. Und das ist immer noch das Haus des Volkes.“ 

     Nachdenkliche Tweets von Brendan Boyle, einem Demokraten aus Philadelphia, der seit 2015 im Kongress sitzt, lassen ahnen, wie tief der Schock sitzt. Und dass alte Gewissheiten gerade gründlich auf ihre Belastbarkeit überprüft werden. „Ich hatte immer angenommen, unsere Demokratie würde alles aushalten“, schreibt Boyle. Doch nach dem Überfall des Mobs und der Weigerung einiger republikanischer Kollegen, Bidens Sieg anzuerkennen, falle es ihm schwer zu beurteilen, ob die Sonne gerade auf- oder untergehe über der amerikanischen Demokratie. Jedenfalls werde er diese Demokratie nie wieder als etwas Selbstverständliches betrachten.

      Kelly Loeffler, die Senatorin aus Georgia, die am Dienstag abgewählt wurde, obwohl oder gerade weil Trump die Trommel für sie gerührt hatte, gibt einen Sinneswandel zu Protokoll. Noch am Morgen, erklärt sie, habe sie die Absicht gehabt, gegen die Bestätigung des Biden-Siegs zu stimmen. Das könne sie nun nicht mehr guten Gewissens tun. Im Senat sind es zum Schluss noch sieben Konservative, angeführt vom Texaner Ted Cruz, die sich gegen die Zertifizierung des Wahlergebnisses stemmten. Die meisten Republikaner waren Mitch McConnell, dem Mehrheitsführer der Kammer, gefolgt, der gleich zum Auftakt der Debatte eine starke Rede gehalten hatte. Sollte die Legislative das Urteil der Wähler kippen, warnte der Veteran aus Kentucky, werde sie der Republik dauerhaften Schaden zufügen. Dann würde die Demokratie auf eine Todesspirale zusteuern, „wir würden nie wieder erleben, dass die Nation als Ganzes das Ergebnis einer Wahl akzeptiert“.

     Dies sei ein Moment großer Ehrlosigkeit und eine „Schande für unsere Nation“, fasst Trumps Vorgänger Barack Obama das Kapitel zusammen. Die Gewalt sei vom amtierenden Präsidenten angestiftet worden, mit Fantasie-Erzählungen, die sich immer weiter von der Realität entfernt hätten. Man würde sich allerdings etwas vormachen, wenn man so tue, als wäre dies eine totale Überraschung. 

      Es war Trump, der am Mittwochvormittag auf einer Kundgebung in der Nähe des Weißen Hauses Öl ins Feuer gegossen hatte. Noch bevor beide Kammern des Kongresses zusammentraten, um das Ergebnis des Votums am 3. November zu beglaubigen, schürte er den Zorn seiner Fans. „Wir werden sehr viel härter kämpfen müssen“, sagte er und rief dazu, zum Kapitol zu marschieren, „um unsere Demokratie zu retten“. Zugleich nahm er seinen Stellvertreter ins Visier, jenen Mike Pence, der bis dahin nie auch nur den leisesten Widerspruch wagte. „Mike Pence muss sich heute für uns einsetzen, und wenn er es nicht tut, dann ist das ein trauriger Tag für unser Land.“

    Wie von der Verfassung vorgeschrieben, hatte der Vizepräsident die Parlamentssitzung zu leiten, die endgültig absegnen sollte, was die fünfzig Bundesstaaten und der Hauptstadtbezirk District of Columbia bereits Mitte Dezember zertifiziert hatten: den Wahlsieg Joe Bidens. Hätte er getan, was Trump von ihm verlangte, nämlich das Resultat auszuhebeln, hätte er sich eines eklatanten Rechtsbruchs schuldig gemacht. Zudem war von vornherein klar, dass jene konservativen Volkvertreter, die das Resultat des Votums noch immer infrage stellen, ihren Protest eher für die Galerie inszenieren würden, ohne praktische Konsequenzen.

     Am Mittwochmittag hatte es begonnen, das Procedere, das normalerweise ohne Zwischenfälle über die Bühne geht. Schon nach kurzer Zeit, nachdem einer der Rebellen das Resultat in Arizona angefochten und die Debatte darüber gerade erst begonnen hatte, getrennt in beiden Häusern, sahen sich Senat und Repräsentantenhaus gezwungen, ihre Sitzungen zu unterbrechen. Der Mann, der das Chaos zu verantworten hat, brauchte skandalös lange, um zur Ordnung zu rufen. Erst nach Stunden akuter Verunsicherung meldete sich Donald Trump per Video zu Wort. „Geht nach Hause, wir lieben euch, ihr seid etwas ganz Besonderes“, sagt er, bevor er einmal mehr, diesmal in einem Tweet, das Märchen vom massiven Wahlbetrug wiederholt. So etwas passiere dann eben, behauptet der Präsident, wenn großen Patrioten, die man lange so schlecht und unfair behandelt habe, auf derart gemeine Weise ein „geheiligter“ Erdrutschsieg genommen werde. „Geht in Frieden und Liebe nach Hause. Erinnert euch für immer an diesen Tag!“

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