Unionskrise „CSU und CDU wollen Bruch nicht wirklich“

Mainz/Berlin · Politikwissenschaftler: Christsoziale brauchen Kompromiss. Ein schnelles Ende der Groko wegen der Flüchtlingsfrage hält er für unwahrscheinlich.

Der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter hält ein schnelles Ende der großen Koalition wegen der Flüchtlingsfrage für unwahrscheinlich. Mit ihm sprach unser Korrespondent Stefan Vetter:

Herr Falter, auf einer Eskalations-Skala von eins bis zehn: Wie wahrscheinlich ist ein Bruch zwischen CSU und CDU?

JÜRGEN FALTER Stufe sieben, würde ich sagen. Die Gefahr ist sicher groß. Aber beide Seiten wollen einen Bruch nicht wirklich. Deshalb wird es wohl doch noch zu einem Kompromiss kommen. Ein Scheitern würde mit Sicherheit auch der CSU schaden.

Können Sie sich an eine vergleichbare Situation erinnern?

FALTER Wir hatten ja schon einmal eine kurzzeitige Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft durch die CSU. Das war 1976 unter der Ägide von Franz-Josef Strauß. Aber das ging schnell vorbei. Dann gab es Anfang der 1990er Jahre eine ernsthafte Debatte in der CSU, ob man sich bundesweit ausbreiten solle. Das hat man schnell wieder fallengelassen, nachdem die CDU damit drohte, dann auch in Bayern zu kandidieren. Insofern gab es immer ein Spannungsverhältnis zwischen beiden Parteien.

Treibt die CSU nur die Flüchtlingspolitik um, oder steckt noch mehr dahinter?

FALTER Ich glaube nicht, dass die CSU Angela Merkel weghaben will. Aber sie will, dass Merkel auf die Linie der CSU in der Flüchtlingspolitik einschwenkt. Dass das alles so dramatisch betrieben wird, hat natürlich mit der bayerischen Landtagswahl im Oktober zu tun, bei der die CSU um ihre absolute Mehrheit fürchten muss.

Und die Wahlchancen der CSU wären besser, wenn die große Koalition in Berlin wegen der Flüchtlingsfrage auseinanderfliegt?

FALTER Das ist die entscheidende Frage. Die große Mehrheit der potenziellen Unionswähler in Bayern steht klar auf der Seite von Horst Seehofer. Das wissen wir aus Umfragen. Aber schätzungsweise ein Drittel tendiert eher zu den Positionen der CDU. Und dieses Potenzial könnte die CSU verlieren, wenn sie die Regierung in Berlin zum Bruch treibt. Wenn die CSU in der Flüchtlingsfrage mit leeren Händen dasteht, wäre das allerdings genauso schlimm für sie. Also ist die CSU dringend auf einen vorzeigbaren Kompromiss angewiesen.

Selbst wenn der gelingt, müsste auch noch die SPD zustimmen …

FALTER Die SPD muss sich derzeit wohl am meisten vor Neuwahlen fürchten. Deshalb wird sie die große Koalition nicht von sich aus platzen lassen. Schon gar nicht wegen der Flüchtlingspolitik. Dabei könnte sie sich hinter dem Ressort-Prinzip verschanzen und sagen, was der Seehofer macht, gefällt uns nicht, aber es ist seine Zuständigkeit, darüber zu entscheiden.

Wie steht Angela Merkel jetzt da?

FALTER Sie ist schon lange geschwächt. Regieren gegen eine Mehrheit beziehungsweise eine starke Minderheit unter den eigenen Anhängern ist sehr riskant. Und das tut Merkel ja in der Flüchtlingspolitik schon seit rund zwei Jahren. Dagegen kann die CSU hier Volkes Wille reklamieren. Das stärkt sie in den Verhandlungen und in der Gewissheit, mit verschärften Zuwanderungsbestimmungen das Richtige zu tun.

Ihre Prognose: Wird Merkel regulär bis Herbst 2021 regieren?

FALTER Ich glaube ja. Sie ist stark beschädigt. Aber sie wird sich bis dahin halten, wenn sie das selbst will und über die jetzige Regierungskrise nicht stürzt, was voraussetzt, dass sie zu weitgehenden Kompromissen in der Flüchtlingsfrage bereit ist.

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