Literatur Eine Magd begehrt auf

„Wir schrieben das Jahr achtzehnhundertunddreißig nach der Geburt unseres Herrn.“ So altmodisch beginnt der Roman der britischen Dramatikerin Nell Leyshon über das entbehrungsreiche Leben der 14-jährigen Mary in der englischen Provinz. Genauer gesagt ist es Mary selbst, die ihre Geschichte erzählt.  Das Bauernmädchen darf keine Schule besuchen, muss hart arbeiten und sich gegen Krankheit, Kälte, väterliche Strenge, vor allem aber gegen die Lieblosigkeit ihrer Eltern und Schwestern behaupten. Aber dumm ist Mary nicht.  Und sie hat auf archaische Weise ein Gespür dafür, was Recht ist und was Unrecht.  Als Mary in den Haushalt des Dorfpfarrers geschickt wird, um dessen kranke Frau zu pflegen, erlebt sie zum ersten Mal Achtung und menschliche Wärme  – bis die Pastorengattin stirbt. Der Hausherr will, dass Mary bleibt. Auch ihre Familie lässt sie nicht auf den elterlichen Hof zurückkehren, weil sie auf das Geld angewiesen ist, das der Pfarrer für Marys Dienste zahlt. Aber das mittellose Mädchen ergibt sich nicht in sein Schicksal. Es begehrt auf. Mary beschreibt ihr Leben auf schlichte Weise, aber darin liegt eine unglaubliche Wucht. Ihr Erzählstil erinnert an die Bibel, für deren Inhalt Mary allerdings sonst nur Spott übrig hat. Gott ist ihr in all der schweren Arbeit nie begegnet, weder auf dem Feld noch im Pfarrhaus. Marys Welt ist ohne Trost, weshalb sie nichts zu verlieren hat. Auf den ersten Blick mögen die vielfach fehlenden Satzzeichen irritieren, die die scheinbare Einfalt der Erzählerin zum Ausdruck bringen, aber das stört schon auf der zweiten Seite nicht mehr, weil der Leser wie magisch eintaucht in die Welt dieser einfachen, starken und trotz ihrer geringen Bildung klugen Frau. Ein ergreifendes Werk über Armut und Menschenwürde, Machtgefälle und Widerstand – schlicht und schön. Diese Mary wird man nicht vergessen.

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Foto: TV

Anne Heucher

Nell Leyshon, Die Farbe von Milch, Roman, Aus dem Englischen von Wibke Kuhn, Eisele Verlag 2017, 207 Seiten, 18 Euro.

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