Aufgeschlagen – Neue Bücher: „Bitten der Vögel im Winter“ von Ute Bales Schmerzhafter Blick auf eine Welt ohne Mitleid

Schwere Kost liefert die Autorin Ute Bales dem Leser mit ihrem neuen Roman „Bitten der Vögel im Winter“.  Was sie darin beschreibt, ist keine reine Fiktion.

 Bitten der Vögel im Winter Ute Bales Cover

Bitten der Vögel im Winter Ute Bales Cover

Foto: TV/Wilbert, Bianca

Wer sich darauf einlässt, muss es ertragen, abscheuliche, nie gesühnte Verbrechen an Sinti und Roma im Deutschland der Hitler-Diktatur aus der mitleidlosen Perspektive einer Täterin zu betrachten: der „Rassenforscherin“ Eva Justin (1909 - 1966). Geschilderte Gräuel, Kaltherzigkeit, ungefilterte Nazi-Ideologie und -Terminologie haben das Potenzial, Unwillen beim Leser zu erzeugen. Zumal es sich verbietet, die Schuld der Täter durch Einblicke in ihr Privates relativiert zu sehen – und im Roman Opferperspektive und Stimmen der Menschlichkeit den kleineren Raum einnehmen: Eva Justin und ihr Vorgesetzter, der Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, Dr. Robert Ritter  (1901 - 1951), waren im Nazi-Deutschland die Verantwortlichen für „rassenbiologische“ Untersuchungen und scheinwissenschaftliche Gutachten, die zur Deportation, Zwangssterilisierung und Ermordung von mehr als einer halben Million europäischer Sinti und Roma führten.

Der Tatsachenroman folgt den Lebensstationen von Eva Justin, die ein Liebesverhältnis mit dem verheirateten Familienvater Ritter eingegangen war und – wie dieser mit preußischer Strenge erzogen – besonderen Diensteifer an den Tag legte. Dabei gelingt es der Autorin erneut meisterlich, Lebensgeschichte mit Zeitgeschichte zu verschmelzen: Ute Bales erzählt von einer empathielosen Frau, die zu ungeheurer Grausamkeit gegenüber den sogenannten „Zigeunern“ fähig ist, die sie in Lagern   ausfragt, denen sie die Köpfe vermisst, um Gutachten zu erstellen, die den Untersuchten letztendlich den Tod bringen. Sie schickt Mütter zu harter Zwangsarbeit, lässt Menschen kahlscheren, um Widerstand zu brechen, zwingt Frauen zur Abtreibung und zur Zwangssterilisation. In einem Heim „forscht“ sie an 40 Sinti-Kindern, um die Doktorwürde zu erlangen. Nach Abschluss des Promotionsverfahrens werden diese  nach Auschwitz transportiert. Eva Justin hat kein Ohr für die „Bitten der Vögel im Winter“ – ein Bild für die Not dieser Kinder. Gleichzeitig lässt sie sich von dem verheirateten Karrieristen Robert Ritter sexuell ausnutzen und übernimmt dessen „rassenbiologische“ Ideen unreflektiert. Justins Selbstwertgefühl speist sich aus dieser Beziehung – und aus dem  Wahn, „Untermenschen“ überlegen zu sein. 

Das Buch führt zur Erkenntnis, dass Grausamkeit und Schwäche zusammenhängen. Es verweist darauf, dass ein Mensch die Pflicht hat, sich kritisch zu hinterfragen, um nicht schuldig zu werden, und auf den Wert einer humanen Pädagogik, die zu Empathiefähigkeit erzieht. Allerdings setzen diese Erkenntnisse voraus, dass der Leser eine kritische Distanz zu dem aus Sicht der Täterin Erzählten einzunehmen versteht. Hier geht die Autorin ein Risiko ein.

Es ist zweifellos ein Verdienst der Schriftstellerin, mit ihrem Tatsachenroman ein Thema in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken, über das nur wenige sprechen: den straffrei gebliebenen und unzureichend entschädigten Völkermord an den Sinti und Roma. Ob der Leser es aber ertragen will, Ute Bales in die seelische Eiseskälte der Horror-Szenarien zu folgen, zu denen die Autorin durch ihr Schreiben aus Täterperspektive für ihn die Tür aufstößt?

„Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“ schreibt Gotthold Ephraim Lessing. Die Opferperspektive, die im Leser hätte Mitleid entstehen lassen, kommt in „Bitten der Vögel im Winter“ zu kurz. Die Fähigkeit zur Empathie ist aber die Voraussetzung, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie während der NS-Herrschaft begangen worden sind, niemals wiederholen. Denn Wissen alleine reicht offensichtlich nicht aus, um Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu  begegnen.

  Sabine Ganz

Ute Bales „Bitten der Vögel im Winter“, Rhein-Mosel-Verlag, Zell, 2018, 410 Seiten, 22,80 Euro.

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