Aufgeschlagen - neue Bücher: „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ Der unsägliche Bruch im Leben der Annette von Droste-Hülshoff
Nette ist die Hauptfigur in Karen Duves aktuellem Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“. Bei ihr handelt es sich nicht etwa um eine fiktive Person, sondern vielmehr um Freifräulein Annette von Droste-Hülshoff, eine der ersten Schriftstellerinnen Deutschlands (1797-1848), die darüber hinaus noch viele weitere Begabungen hatte (Musik, Kunst).
Aber wie wird sie denn hier dargestellt?
Nicht nur „glotzäugig“ soll sie sein, die dünne, schwächelnde 23-Jährige. Im Gegensatz zu ihren am Kamin stickenden und strickenden Cousinen und Tanten macht sich das Freifräulein mit Hammer bewaffnet auf in die Steinbrüche, um nach Mineralien zu graben. Ihre Kleidersäume sind folglich ständig verdreckt. Geht natürlich gar nicht! Aber noch viel schlimmer im Biedermeier: Nette ist äußerst vorlaut und scharfzüngig, mischt sich gar in die Gespräche der Freunde ihres nur wenige Jahre älteren Onkels August über Politik und Kultur ein. Völlig unmöglich! Zu allem Überfluss schreibt sie selbst auch noch Gedichte und wird dafür von dem verkannten Genie Heinrich Straube überschwänglich gelobt. Mit dem geht sie dann gar ein Verhältnis ein, trifft sich mit ihm – zunächst heimlich – in den Treib- und Gewächshäusern: nicht nur sowieso schon unsäglich, dann aber auch wegen des Außerachtlassens der Standesgrenzen – eine Adlige und ein Bürgerlicher! - ein absolutes Tabu!
So bringt die Schriftstellerin Karen Duve (*1961) dem Leser auf ironische, manchmal sogar bissige Art und Weise sowie mit scharfem Witz das Leben der Annette von Hülshoff nahe, die – obwohl gebunden von Standes- und Geschlechtsschranken – eigentlich ihre feministischen Ideen auszuleben versucht und dabei nicht nur bei ihren Geschlechtsgenossinnen, sondern auch bei den Göttinger Studentenkreisen ihres Onkels August von Haxthausen auf erhebliche Widerstände stößt.
Duve versteht es dabei äußerst geschickt, bekannte historische Figuren in ihren Roman einzubauen. Dabei stützt sie sich auf viele historische Quellen (Briefe, Urkunden). Für ihr Opus Magnum hat sie umfangreich recherchiert, was schon allein das rund ein Dutzend Seiten umfassende Literaturverzeichnis zeigt. Das Göttinger Studentenleben, die „Poetische Schusterinnung an der Leine“, das Leben der Gebrüder Grimm und deren Schwester in Kassel oder auch Deutschtümelei im Biedermeier mitsamt der Ermordung des Dichters August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand finden ebenso Aufnahme in den historischen Roman wie Ausführungen über die unglaublich beschwerlichen Reisen in Kutschen durch das damalige Westfalen, den unsäglichen hygienischen Zustand der Ortschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder die riesigen finanziellen Probleme des (nicht nur katholischen) Landadels.
Im Zentrum des umfangreichen Romans, in dem Karin Duve ihre Fabulierlaune geradezu üppig auslebt – 562 Seiten Romantext –, stehen die bis heute nicht gänzlich geklärten Ereignisse im Leben der Droste vom Sommer des Jahres 1820. Duve lässt neben Nettes inniger Herzensbeziehung zu dem bürgerlichen Dichter Heinrich Straube – den ihr Onkel für genauso begabt wie Goethe hält, aber eben nicht für die gesellschaftlich richtige Partie für seine Nichte – den „schönen“ Dichter August von Arnswaldt auftreten. Der zeigt ebenfalls sein Begehren an der eigenwilligen jungen Adligen. Versteckt es jedoch (– laut Duve –) hinter dem angeblichen Auftrag seines Freundes Straube, die Treue seiner Angebeteten mit Wissen derer Familie zu „prüfen“. Wie sich Nette verhält und sich ihre private Situation im „kurzen Sommer“ 1820 weiterentwickelt, soll her nicht verraten werden und dem geschätzten Leser selbst zum Aufdecken überlassen werden.
Bleibt zu resümieren: ein wirklich sehr gelungenes Werk, das trotz seines enormen Umfangs den Leser stets zum Weiterlesen animiert. Duve versteht es gekonnt, Leben und Wünsche der Annette von Droste-Hülshoff auch sprachlich darzulegen und den Leser ihrer Hauptfigur gewogen zu stimmen. Jörg Lehn
Karen Duve, Fräulein Nettes kurzer Sommer. Roman, Galiani Verlag Berlin, gebunden, 584 Seiten, Berlin 2018, 25 Euro.