Aufgeschlagen – neue Bücher: „Die Verblendeten“ von Franz Winter „Die Verblendeten“ von Franz Winter: Weitsprung durch die Zeiten

Nein, sie lernen wirklich nichts aus der Geschichte, die „Verblendeten“, deren Lebenswege der österreichische Autor und Schauspieler Franz Winter in seinem neuesten Roman verfolgt. Im Mittelpunkt steht der aus- und absterbende Adel der k.u.k.-Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs, diese „sozial exklusive Gruppe mit gesellschaftlichem Vorrang“, wie der Stand definiert wird.

 Die Verblendeten von Franz Winter Cover

Die Verblendeten von Franz Winter Cover

Foto: Braumüller-Verlag

Dessen Mitglieder wollen weder noch können sie wahrhaben, dass ihre Zeit abgelaufen ist. 1919, das Jahr, in dem die Handlung einsetzt, wird der Adel offiziell abgeschafft; in der Republik Österreich lebten fortan nur „Bürger“. Auch die Bühls – Hans Karl, seine Frau Helene und Tochter Leonore sowie der Rest der Familie – hat kein Recht mehr auf das „von“ im Namen. Aber das sind natürlich Petitessen, solange man das gewohnte Leben weiterführen kann – mit vielköpfiger Dienerschaft, in großzügigen Häusern und Wohnungen, mit Stil, Noblesse und Kultur.

Natürlich verachtet und fürchtet man den Pöbel, der im Jahre 1919, frisch aus Krieg und Gefangenschaft heimgekehrt, durch die Straßen Wiens zieht, dieser plötzlich so grotesk überdimensionierten Hauptstadt für ein geschrumpftes Land. Doch noch kann es sich der Ex-Adel in seiner Blase einigermaßen bequem machen, ohne die Realität allzu nahe an sich heranzulassen. Man pflegt weiterhin Umgang mit der kulturellen Elite, dem Schriftsteller Egon Friedell etwa, dem Dirigenten Karl Böhm, dem Pianisten Wilhelm Kempf, genießt seine kleinen außerehelichen Affären und hofft, dass der Spuk vorüberziehen wird wie ein Sommergewitter.

Die Vermischung von fiktiven Gestalten mit Personen und Persönlichkeiten aus der Realität verleiht den „Verblendeten“ eine quasi-dokumentarische Ebene; Winter gelingt es quasi en passant, Fantasie und Wirklichkeit zu einer homogenen Einheit zu  verschmelzen. Doch spätestens 1938 ist Schluss mit lustig; Hitler verkündet den „Anschluss“ auf dem Wiener Heldenplatz, Tausende verblendete Österreicher haben sich dort versammelt und jubeln den Schlächtern zu (interessanterweise konnte sich nach 1945 kaum einer von ihnen daran erinnern, dabei gewesen zu sein). Die Bühls und Altenwyls und Freudenbergs werden enteignet und aus ihren hochherrschaftlichen Domizilen vertrieben. Schlimmer noch: Selbst Familienmitglieder sind vom Virus des Nationalsozialismus befallen, lassen sich begeistern von der barbarischen Ideologie, tauchen auf einmal in Uniform bei Familienfeiern auf, im Schlepptau zum Beispiel Baldur von Schirach, den Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart, immer noch Kempff und Böhm, inzwischen vom „Führer“ in die „Gottbegnadetenliste“ aufgenommen.

Und als am Ende aller Schlachten Wien in Schutt und Asche liegt und der Irrsinn ein Ende hat, kommen sie wieder zurück, die Geflüchteten und Verblendeten, und leben weiter, als wäre nichts gewesen. Diejenigen, die mitgemacht haben, behaupten, hätte man nicht mit den Wölfen in ihren unkultivierten Horden geheult, wer weiß, was aus der Familie geworden wäre, vor die man sich doch nur schützend hatte stellen wollen …

Franz Winter jagt den Leser durch 36 Jahre Welt- und österreichische Geschichte, eine Art Weitsprung durch die Zeiten, rafft die Ereignisse und stellt sie punktuell heraus. So  wird der Krieg auf nur knapp 40 Seiten als Briefroman reportiert, in dem Tochter Leonore, die ihren frischgetrauten Mann Karl „Kari“ Adam sechs Jahre auf dem Dachboden versteckt, um ihn vorm Wehrdienst zu retten, über die Ereignisse der Kriegsjahre in Wien an die nach London geflüchteten Eltern berichtet.

Winters Sprache ist genauso prätentiös und gespreizt wie der Lebensstil der Familie, ein Satz beansprucht mitunter, geschachtelt und gestelzt, eine und mehr als eine Buchseite, aber irgendwie passt’s schon, auch wenn man mitunter des besseren Verständnis wegen ein zweites Mal zum Satzanfang zurückkehren muss, denn auf diese Weise gewinnen die Dialoge eine Authentizität, die direkt auf ihre Sprecher zurückstrahlt. Und das desillusionierende Fazit, wenn zu Beginn der 1950er Jahre wieder eine Normalität hergestellt werden soll: Es geht alles weiter wie bisher. Schließlich meint „verblendet“ auch: uneinsichtig, unkritisch – und, ja, auch: naiv.

Rainer Nolden

Franz Winter, Die Verblendeten, Braumüller, 384 Seiten, 24 Euro.

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