Kulturwoche Eine Zensur findet nicht statt - wenigstens nicht immer

Alleen / Alleen und Blumen // Blumen / Blumen und Frauen // Alleen / Alleen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer." Das Gedicht stammt von Eugen Gomringer und ist an Sexismus und Übergriffigkeit schwerlich zu überbieten.

Wie jetzt? Echt? Ja, kein Witz: Dieser Meinung ist der AStA der Alice Salomon Hochschule in Berlin, an deren Front diese Worte - sozusagen verbale Kunst am Bau - geschrieben sind. Die Verwendung als Fassadenschmuck ist Folge der Verleihung des Alice-Salomon-Poetik-Preises an den Schweizer Dichter im Jahre 2011. Auf Spanisch zwar, denn Gomringer hat es 1951 in dieser Sprache verfasst (er wurde 1925 in Bolivien geboren), aber da es nur aus fünf Wörtern besteht, ist es eine Sache von wenigen Sekunden, mit Hilfe eines Wörterbuches deren Bedeutung herauszufinden. Dieses Gedicht nun, so der Wortlaut der Asta-Stellungnahme, "reproduziert nicht nur eine klassische patriarchalische Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind"; schlimmer noch: Das Gedicht erinnere "unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind". Und es "erinnert unangenehm daran, dass wir uns als Frauen nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches ,Frau'-Sein bewundert zu werden". Hochgeschätzte Unterzeichner*innen (die *innen sind in der Mehrzahl): Obwohl hochgradig sensibilisiert durch die Vorkommnisse der vergangenen Wochen, in denen viele Frauen (fast) weltweit mit Recht auf die Barrikaden gehen, um grapschenden Männerhänden zu entkommen, ist es dem Verfasser dieser Zeilen weder auf den ersten, zweiten oder sogar dritten Blick nicht so recht einsichtig, was an diesen Zeilen frauenfeindlich, herablassend, entwürdigend oder sexistisch sein soll. Ist es der Begriff "Alleen"? "Blumen"? "Frauen" (Vorsicht - vermintes Gelände!). Oder "Bewunderer"? Das wird es sein: der Bewunderer. Es ist nämlich das einzige Wort, das in diesem "konkreten Gedicht" (ein Begriff, den Gomringer selbst geprägt hat) männlichen Geschlechts ist und damit offenbar von vornherein verdächtig. "Eine Zensur findet nicht statt", heißt es im Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Ach ja? An der Universität Göttingen hängte das Studentenwerk eine Ausstellung mit 45 satirischen Werken ab, weil einzelne Bilder als sexistisch (okay, hatten wir schon) oder judenfeindlich kritisiert wurden. Die Jüdische Gemeinde Göttingen hatte eine Karikatur kritisiert, die Albert Einstein mit herausgestreckter Zunge und Schweineohren zeigte. Seit 1951, in dem Jahr also, als der Schnappschuss entstand, gehört dieses Foto zu den ikonografischen Glanzstücken nicht nur der Fotografie, sondern auch im Leben des Physikers. Dem gefiel das Bild nämlich so gut, dass er sich vom Urheber Arthur Sasse Abzüge kommen ließ, um sie als Grußkarte an Freunde, Kollegen und Bekannte zu verschicken. In der Göttinger Ausstellung hat der Künstler noch eins draufgesetzt und das weltberühmte Bild mit Schweineohren zur Karikatur verfremdet. Nun kennt man natürlich die verunstalteten "Judenkarikaturen" der Nazi-Hasspostille Der Stürmer. Schweineohren gehörten allerdings nicht zum Repertoire der zeichnenden Rassisten. Insofern hätten die Studenten aus Göttingen mit etwas Recherche (gehört das nicht eigentlich zu ihrem Handwerkszeug, wenn sie akademische Würden erlangen wollen?) herausfinden können, dass die Schweineohren zwar Geschmackssache, aber nicht weniger verunglimpfend sind als die Verzerrung anderer Körperteile. Über die beanstandeten Brüste und nackten Pos wollen wir an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter eingehen; nur das dazu: Wenn diese Entwicklung so weitergeht, sollten Museen mindestens die Hälfte ihrer Bestände ins Depot schaffen, damit derlei Anzügliches ein für allemal dem menschlichen Auge entzogen wird. Die neueröffnete Zweigstelle des Louvre in Abu Dhabi geht als gutes Beispiel voran: Nichts Nacktes oder Fleischliches wird an den Wänden zu sehen sein - das erste Museum, in dem jeder Tag Veggieday ist. no/dpa Unterm Strich - Die Kulturwoche

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