Literatur „Geister haben wir schon genug“

Trier · Ursula Krechel zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Ihr neuester Roman „Geisterbahn“ spielt größtenteils in Trier, wo die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin nach dem Krieg aufgewachsen ist.

 Frauen bücken sich im Winter 1946/47 nach Kohlenstücken oder klettern gleich ganz auf den Waggon eines Kohlenzuges und stehlen das begehrte Heizmaterial. Der Kölner Kardinal Josef Frings gab den Notleidenden in seiner Predigt moralische Rückendeckung. Mit den eintreffenden Amerikanern wollte der Erzbischof laut „Geisterbahn“ wegen der Treuepflicht der Kirche gegenüber der Hitler-Regierung nicht zusammenarbeiten.

Frauen bücken sich im Winter 1946/47 nach Kohlenstücken oder klettern gleich ganz auf den Waggon eines Kohlenzuges und stehlen das begehrte Heizmaterial. Der Kölner Kardinal Josef Frings gab den Notleidenden in seiner Predigt moralische Rückendeckung. Mit den eintreffenden Amerikanern wollte der Erzbischof laut „Geisterbahn“ wegen der Treuepflicht der Kirche gegenüber der Hitler-Regierung nicht zusammenarbeiten.

Foto: picture alliance / dpa/unterschiedlich

„Die Mörder sind unter uns“ – das Titel-Zitat aus einem Nachkriegsfilm von Wolfgang Staudte schwirrt bei der Lektüre von Ursula Krechels Roman „Geisterbahn“ immer wieder durchs Gedächtnis.  Es gab Mörder, die lebten nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regime unbehelligt weiter, viele machten Karriere als Lehrer, Polizisten oder Politiker. Das ist nichts Neues. Und die Opfer? Wie lebten die Menschen weiter, deren Kinder oder Eltern ermordet, die selbst gedemütigt, gefoltert worden waren? Die traumatisiert waren. Keineswegs wurden NS-Verfolgte bei ihrer Rückkehr in die Heimat mit offenen Armen empfangen. Schon im Roman „Landgericht“, für den Ursula Krechel 2012 den Deutschen Buchpreis erhielt, hatte sie das Einzelschicksal eines jüdischen Emigranten erzählt, der im Nachkriegs-Deutschland dabei scheitert, in der Heimat wieder Fuß zu fassen.

 In „Geisterbahn“, das ebenfalls die Bewältigung der NS-Verbrechen zum Thema hat, weitet die Autorin  den Blick auf die ganze Gesellschaft, auf eine ganze Stadt, vom Täter bis zum Opfer und auf deren Nachkommen. Exemplarisch erschafft sie ein Panorama der Zeitgeschichte in ihrer Heimatstadt Trier ab den frühen 1930er Jahren. Im Mittelpunkt stehen die Geschichten dreier Familien, die zunächst nichts gemeinsam haben als Zeit und Ort, deren Wege sich aber in den 50er Jahren in einer Grundschulklasse kreuzen werden.

Da ist die Familie Dorn, Schausteller, die als Sinti zu den ersten gehören, die die Gewalt des NS-Regimes zu spüren bekommen: Zwangssterilisation der 16-jährigen Tochter, Inhaftierung, Ermordung vieler Familienmitglieder. Aus dem KZ bringt Vater Alfons Krankheiten mit, die als Rentengrund nicht anerkannt werden. Das eigene Grundstück haben die Nachbarn in Beschlag genommen. In Trier bekamen die Opfer des Faschismus nach ihrer Rückkehr aus den Konzentrationslagern 100 Mark und zehn Flaschen Wein. Als die später geborene, ahnungslose Tochter vorschlägt, eine Geisterbahn zu kaufen, kontert der Vater im Gedenken an seine fünf ermordeten Kinder:  „Geister haben wir schon genug“.

Da ist die Familie Torgau – Willi Torgau war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Triers, eine Eisenbahnerfamilie mit deutsch-französischen Wurzeln, die ihren Überzeugungen trotz Repressalien treu bleibt und sogar Widerstand leistet. Und da ist der Beamte Blank, der brutale Opportunist, der  jedem Staat dient.

Scham, Reue, Gesten des Mitleids oder der Wiedergutmachung haben keinen Platz in der Nachkriegszeit, jeder ist mit dem eigenen Auskommen beschäftigt. Die Opfer werden weiter ausgegrenzt. Der Trierer Oberbürgermeister schrieb damals: „Nicht jeder aus einem Konzentrationslager entlassene Häftling ist des Mitleids der Bevölkerung würdig.“ Das sind „Worte wie Messer“, von denen das Buch eine ganze Menge bereithält. Das Original-Zitat und viele weitere hat die Autorin recherchiert, sie grundieren „Geisterbahn“ historisch und geben ihm eine besondere Authentizität. Kenntlich gemacht sind die Quellen durch Kursive.

Erzähler der vielen Einzelgeschichten ist  meist ein späterer Lehrer, der wie die Autorin nach dem Krieg geboren ist und mit den Kindern der Dorns und Torgaus in Heiligkreuz in die Schule geht. Eine aufschlussreiche Perspektive – denn mit der Unbefangenheit und Neugier eines Kindes und als Sohn eines Täters lässt sich am besten ein vielstimmiges, differenziertes Panorama der Zeit einfangen. Dort aber, wo Fassungs- und Sprachlosigkeit ihren Ausdruck finden sollen, bemüht Krechel auch eine auktoriale Erzählperspektive.

„Geisterbahn“ auf über 600 Seiten, sprachlich dicht, ist sicherlich keine leichte Lektüre. Dennoch wünscht man diesem großartigen Werk – besonders in der Region Trier – viele Leser. Es erzählt sprachlich kunstvoll ein knappes Jahrhundert Zeitgeschichte, macht anschaulich und fühlbar, was sonst in den Geschichtsbüchern so sperrig und weit weg erscheint und gibt den regionalen Aspekten des nahen Luxemburgs und dem „Kokon des  Katholizismus“ Raum. Und sind wir nicht alle die Erben der Dorns, Torgaus und Blanks?

Schriftstellerin Ursula Krechel im TV-Interview: Die  NS-Opfer blieben immer benachteiligt

Ursula Krechel, Geisterbahn, Roman, Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2018, 643 Seiten, 32 Euro.

Ursula Krechel liest am Mittwoch, 6. Februar, 20 Uhr, in der Tuchfabrik in Trier aus ihrem Roman. Karten gibt es bei Ticket-regional.

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