Theater Liebe in der Todeszone

Trier · Ryan McBryde erzählt im Theater Trier die letzten fünf Tage von „Romeo und Julia“.

 Der Tod ist allgegenwärtig bei der jüngsten Trierer Fassung von Shakespeares berühmtester Liebesgeschichte „Romeo und Julia“.

Der Tod ist allgegenwärtig bei der jüngsten Trierer Fassung von Shakespeares berühmtester Liebesgeschichte „Romeo und Julia“.

Foto: Marco Piecuch

Der helle Streifen auf dem eisernen Vorhang – ein technisches Versehen? Nein, er gehört zur Handlung. Eine Mauer ist heutzutage keine Ziegelwand mehr, sondern eine Lichtschranke, die die verfeindeten Familien Montague und Capulet zwischen sich errichtet haben. Unheil droht dem, der sie missachtet.

Schauplatz der Tragödie, deren etwa 120 Stunden von einer mit digitalen Ziffern bestückten Kontrolltafel hinuntergezählt werden, ist ein in kaltem Weiß gefliester Pathologiesaal, auf dessen Tische – die je nach Bedarf zu Sitzbänken, Wänden, Hochbeet für Cannabispflanzen, Abenteuerspielplatz oder Straßenfluchten umfunktioniert werden können – bereits zwei Leichen liegen. Über sie spricht den Prolog der Chor, hier in Gestalt des Pathologen (der ans Theater Trier heimgekehrte Manfred-Paul Hänig) von der erhöhten Position, auf der sonst die Studenten sitzen, um den Sektionen beiwohnen zu können. Dann erheben sich die Toten, Romeo und Julia, um die kurze Zeitspanne, die ihnen bleibt, quasi in der Rückschau zu erleben und vor allem zu sterben.

Der Brite Ryan McBryde verwandelt die Teenie-Tragödie, unterstützt von seinem Bühnen- und Kostümbildner James Button und dem Lichtdesigner Ben Cracknell, in einen dynamischen, furiosen, spektakulären, sehr modernen, ausgesprochen britischen Theaterabend, dessen unterschwelliges Hintergrundrauschen der ins Ohr der Zuschauer pochende Herzschlag der beiden Liebenden ist. Romeo und seine Kumpane, das sind rauflustige Punker, prollige Straßenköter (ein Hauch von „West Side Story“ weht ebenfalls durchs Haus), die sich zotig über das unterhalten, was in ihrem Leben derzeit am wichtigsten ist: Mädels und wie man sie flachlegt. Paul Behrens und Gideon Rapp sind die ruppig-sympathischen Freunde Benvolio und Mercutio, Hip-Hopper und Gangsta-Rapper, übermütig-überschwängliche Halbwüchsige, die sich im Eifer des Geschlechts auch schon mal in den Schritt fassen, wenn die Hormone Achterbahn fahren. Romeo, der sanfte Romantiker, kann mit ihrem Herumgealbere derzeit nichts anfangen; er trauert gerade noch seiner fernen und unerreichbaren Geliebten Rosalinde nach. Aber die ist nicht einmal mehr wichtig genug, um im Stück überhaupt leibhaftig aufzutauchen. Denn da kommt Julia, beim Ball im Hause Montague, in das Romeo sich geschlichen hat. Unter die Gäste der Party, die mehr einem Totentanz gleicht, scheinen sich auch Michael Jackson und Lady Gaga gemischt zu haben.

Überhaupt ist der Tod die Hauptfigur an diesem Abend, nicht nur in Gestalt des Leichensaals, sondern er umweht auch Bruder Lorenzo, Romeos Vertrauten und Beichtvater, der die heimliche Trauung der beiden Liebenden mit einer schwarzen Stola vornimmt, die normaler­weise nur bei Beerdigungs- und Trauermessen umgelegt wird. Benjamin Schardt spielt diesen Pfarrer als dem Leben zugewandten Geistlichen, der seine Schäfchen neben geistlichem Beistand auch mit Cannabis versorgt und dem am Ende, als schuldlos schuldig an der Tragödie Gewordener, die Worte im Hals steckenzubleiben drohen.

Barbara Ullmann ist die Amme, Julias Vertraute, eine patente, robuste, bauernschlaue Ratgeberin, schlitzohrig auch und liebevoll. Zwischen all diesen Emotionen zappt sie mühelos in Sekundenbruchteilen hin und her – um am Ende, beim Anblick der Leiche ihres Ziehkindes, abgrundtiefes Entsetzen und schwärzeste Trauer zu fühlen, die sie wie ein wuchtiger Hieb in den Magen treffen. Klaus-Michael Nix ist der berserkerhafte Patriarch bei den Capulets. Sein unbeherrschter Gewaltausbruch, als er erfährt, dass seine Tochter nicht den für sie vorgesehenen Paris (Martin Geisen als selbstgefälliger, schmieriger Schnösel, für den Julia ein gesellschaftlich nützliches Anhängsel wäre) heiraten will, ist definitiv ein Fall von extremem familiären Missbrauch. Bei seinem Tobsuchtsanfall hat auch Stephanie Theiß als Julias Mutter ihren größten Moment: Stumm, wie gelähmt, schaut sie der brutalen Züchtigung ihrer Tochter zu, hin- und hergerissen zwischen Resten mütterlicher Gefühle und der Loyalität zum gemeingefährlichen Gatten. Ihr Gesicht: eine Leinwand der Emotionen, die am Ende zu einer eiskalten Ablehnung ihrer Tochter führen. Dimetrio-Giovanni Rupp liefert sich als aufbrausender Tybalt rasante, von Alexander Ourth perfekt choreographierte Prügelorgien mit seinen Feinden; der (ebenfalls ans Theater heimgekehrte) Norman Stehr als Escalus und Michael Hiller als Cäsar Montague sind kurze, aber prägnante Ruhepole in einem auf die Katastrophe zurasenden Spiel.

In diesem von McBryde perfekt aufeinander abgestimmten Ensemble, in dem Licht und Sound gleichberechtigte Mitspieler sind, fehlen nur noch die Hauptfiguren. Anna Pirchers Julia ist ein kecker, selbstbewusster Teenager, neugierig und sehnsüchtig, liebestrunken und –süchtig – wie das eben so ist, wenn die Liebe zum ersten Mal im Leben mit voller Wucht über eine(n) hereinbricht. Abgesehen von ein paar artikulatorischen Schwächen, vor allem, wenn die Gefühle mit ihr durchgehen, vermag sie als Shakespeares berühmteste Liebende durchaus zu überzeugen. Die Überraschung des Abends freilich ist Robin Jentys. Überraschung deswegen, weil der junge Schauspieler seit seinem Dienstantritt in Trier noch keine Gelegenheit hatte, zu zeigen, was er kann. Von ein paar Unsicherheiten zu Beginn befreit er sich im Verlauf des Abends souverän, um zu einem selbstbewussten, jungen, stürmischen, besessenen, verzweifelten Lover zu werden. Standing ovations fürs ganze Team und viel, sehr viel verdienten Applaus für den jungen Mann.

So könnten Karrieren beginnen.

Die nächsten Termine: 30. März, 7. und 28. April, 10., 22., 28. Mai und 18. Juni; Karten: 0651 718 1818 sowie unter www.theater-trier.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort