Literatur Eine Geschichte der Flüchtigkeit der Nacht

Enkirch/berlin · Mit seinem fünften Roman „Arbeit“ kommt Thorsten Nagelschmidt nach Enkirch/Mosel. Mit dem TV sprach er über sein neues Werk.

 Thorsten Nagelschmidt lebt als Autor und Musiker in Berlin.

Thorsten Nagelschmidt lebt als Autor und Musiker in Berlin.

Foto: Verena Brüning

Sonnenuntergang an einem Freitagabend. Während die Stadt feiert, schläft und lebt, beginnt für viele die Arbeit, die Nachtschicht. Thorsten Nagelschmidt widmet sein fünftes Buch diesem Thema, schafft so einen Einblick in ein Dutzend unterschiedliche Leben: Die Sanitäterin, die Ärztin werden möchte, der Taxifahrer, der in die Späti-Besitzerin verliebt ist, die gerade zum zweiten Mal in diesem Jahr überfallen wurde, der Drogendealer mit Zahnschmerzen und „Freunden“, die zugleich seine Stammkunden sind oder der Türsteher mit Familienproblemen. Nagelschmidt schafft es, seine Figuren voller Lebendigkeit durch die Nacht zu führen, episodenhaft miteinander verwoben.

Herr Nagelschmidt, wie kam es zu diesem episodenhaften Roman, den man fast schon als Milieustudie bezeichnen kann?

THORSTEN NAGELSCHMIDT Die Idee gibt es schon länger und resultiert daraus, dass Berlin als dieser einzigartige Ort gilt, der „place to be“, wo alle nur feiern. Gerade in der Medienwelt und Gegenwartsliteratur ist das so – aber mir haben bestimmte Perspektiven immer gefehlt. Genau die habe ich in „Arbeit“ aufgegriffen.

Wie lange dauerte der Entstehungsprozess?

NAGELSCHMIDT Insgesamt habe ich gute dreieinhalb Jahre daran gearbeitet. Mit der Idee und Recherche habe ich schon begonnen, als ich noch an meinem vierten Roman „Der Abfall der Herzen“ dran war, daher kamen Lesereisen dazwischen. Aber zwei Jahre habe ich mich intensiv damit beschäftigt.

Haben Sie dann parallel geschrieben?

NAGELSCHMIDT Nein, dafür bin ich wohl einfach nicht aufgeräumt genug. „Abfall der Herzen“ war schon geschrieben und im Lektorat. Dementsprechend wurden noch einige Änderungen gemacht. Figuren sind verschwunden, andere dafür aufgetaucht. Da beschäftigt man sich noch einmal intensiv mit dem Werk, aber das Grundgerüst steht schon. Daher fing „Arbeit“ konkret erst vor zwei Jahren an.

Wie sah das Lektorat bei „Arbeit“ aus, gab es weitere Protagonist*innen, die nicht in der Endfassung sind?

NAGELSCHMIDT Nicht wirklich. Es gab zwar einige Episoden, die gestrafft wurden, aber der größte Unterschied ist die Erzählweise. Ursprünglich sollte der Roman chronologisch angelegt sein. Das Buch spielt in einer Märznacht über einen Zeitraum von zwölf Stunden. Es fing daher mit dem Taxifahrer an, gefolgt von der Sanitäterin, der Türsteher erschien in der Mitte, etwa gegen Mitternacht. Die Erzählperspektiven sprangen ständig hin und her. Das hat seinen Reiz, aber jeder Figur ein eigenes Kapitel zu geben, führte zu ganz anderen Möglichkeiten mit den Perspektiven zu spielen. Dafür haben andere Sachen nicht mehr funktioniert. Solche Prozesse – selbst, wenn sie nicht klappen – sind aber wichtig, um sich mit den Figuren auseinanderzusetzen, diese anders zu denken und vielleicht besser zu verstehen.

Der Taxifahrer hat als einziger mehrere (kurze) Kapitel, während die anderen ein langes haben. Ist er eine Art roter Faden?

NAGELSCHMIDT Das ist das Kapitel, bei dem die oben genannte Änderung nicht funktionierte. Die ursprüngliche Version gefiel mir besser – und so ist er die Ausnahme. Ich finde es ganz schön, dass er uns begleitet und durch die Nacht fährt.

Am Schluss waren es für meinen Geschmack fast zu viele offene Enden. War das bewusst so gewählt?

NAGELSCHMIDT Es war keine Vorgabe, die ich mir selbst gemacht habe. Aber ich mag das lieber. Mir geht es nicht darum, Dinge aufzulösen. Vielmehr will ich Einblicke schaffen. Ich mag diese Kombination, einerseits den Menschen sehr nahe zu kommen, obwohl man sie nur wenige Stunden erlebt, und andererseits diese Flüchtigkeit, die beibehalten wird. Die Flüchtigkeit der Nacht und der Großstadt. Ich wollte nicht nur davon erzählen, sondern sie sollte sich auch im Erzählstil bemerkbar machen.

Der ist ja stark auch an die jeweiligen Figuren angepasst. Wie sah dafür die Recherche aus?

NAGELSCHMIDT Ich habe viel mit Menschen geredet, gelesen, Filme angeschaut und war bei einigen Tätigkeiten dabei. Für mich sind dabei die informellen Dinge viel wichtiger als die reine Information. Wie redet man nach der dreizehnten zwölf-Stunden-Schicht miteinander, wie sehr geht man sich auf den Sack? Es sind die Details, die mich interessieren und die ich in solch einem sozialrealistischen Roman lebendig werden lassen möchte. Die Dynamik meiner Protagonist*innen – das ist nichts, was man sich anlesen kann, dafür muss man mit Menschen reden, ihnen zuhören.

Und das einzufangen ist wirklich gut gelungen. Einzig bei den Jugendlichen bin ich über ein paar Worte gestolpert und fand nicht direkt in den Text.

NAGELSCHMIDT Ja, das habe ich schon öfter gehört. Ich habe den Jungs aus Neukölln einen eigenen Slang verpasst, den ich mir selbst ausgedacht habe. Man kann nur verlieren, wenn man versucht, die Jugendsprache zu Papier zu bringen, das veraltet so schnell und sieht geschrieben nicht gut aus. Daher habe ich mich an Clockwork Orange orientiert, wo man sich auch in einer eigenen Kunstsprache unterhält.

Das erklärt gerade einiges!

NAGELSCHMIDT Das Wort „Opfer“ etwa wird von den beiden nie benutzt. Das Wort ist sofort ein Klischee und man hat beim Lesen bestimmte Assoziationen. Ich möchte meine Figuren nicht verraten. Ich finde sie nicht alle durchweg sympathisch, aber darum geht es auch nicht. Ich muss sie interessant finden. Natürlich gibt es bestimmte Klischees und Stereotype, mit denen man arbeiten muss, aber die sind immer wieder gebrochen. Das finde ich an Literatur wichtig – wenn sie es schafft, dass man überrascht ist und nachher ganz anders auf Dinge schaut, und wenn es nur kleine Details sind. Wenn mir das auch nur ein bisschen gelungen ist, bin ich schon froh.

Davon können sich ja einige Menschen bei der Lesung in Enkirch überzeugen lassen. Was sind Ihre Erfahrungen mit Lesungen in Corona-Zeiten?

NAGELSCHMIDT Meine erste Lesung mit Publikum hatte ich Anfang Juni in Düsseldorf im Zakk. Es sah erstmal komplett absurd aus, weil die Sitzbänke so weit auseinander standen und das natürlich nicht unbedingt stimmungsfördernd ist. Aber es wurde dadurch kompensiert, dass überhaupt wieder etwas stattfand. Es war für alle Beteiligten das erste „richtige“ Event seit Monaten, es lag etwas in der Luft. Alle waren dankbar und aufgeregt, es war ein wirklich schöner Abend. Ich hoffe, dass sich das halten wird und die Menschen Kultur und solche Veranstaltungen wieder mehr zu schätzen wissen.

Wie kam es denn zu dem Auftritt jetzt in Enkirch?

NAGELSCHMIDT Ich kenne den Besitzer vom Weingut Immich-Anker, Daniel Immich, schon lange. Er hat mir vor zehn Jahren bei der Recherche zu dem Roman „Was kostet die Welt“ geholfen. Der spielt auf einem Weingut an der Mosel. Ich hatte dort auch meine Buch-Releaseparty und seither noch zwei weitere Lesungen. Aber uns verbindet auch eine Freundschaft. Mit Glück  sehen wir uns ein- oder zweimal im Jahr.

Die Fragen stellte Julia Nemesheimer.

 Cover, 2020.

Cover, 2020.

Foto: S. Fischer Verlag

Thorsten Nagelschmidt: Arbeit. S.Fischer, 334 Seiten, 22 Euro.
Die Lesung am Sonntag, 28. Juni, startet um 17.30 Uhr im Weingut Immich-Anker in Enkirch/Mosel, Ticketreservierung erforderlich unter thorstennagelschmidt.de, 16 Euro.

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