Bücher Von Dummheit, Grips und Langeweile

Jeder Mensch hat eins, aber nicht jeder setzt es optimal ein. Und genau das ist der Fehler, meint Markus Reiter. „Use it or lose it“ lautet die Aufforderung, auf Deutsch etwa, nicht ganz so griffig „Benutz es, oder es verkümmert“.

Die Rede ist vom Gehirn, diesem „Klumpen aus Fett, Wasser und Eiweiß“, wie ein Kapitel überschrieben wird – und der bestimmt kein appetitanregender Anblick wäre, würde er vor einem auf dem Teller liegen.

In der Reclam-Reihe „100 Seiten“ ist einer der jüngsten Bände eben diesem Gehirn gewidmet. Wer nun allerdings glaubt, nach der letzten Seite den absoluten Durchblick zu haben, dürfte enttäuscht sein. Zu kompliziert ist das, was wir für die Lektüre dieses Bändchens benötigen, um es in dieser Knappheit zu durchdringen. Aber das ist kein Grund, mutlos zu werden: So richtig durchdrungen, was all seine Funktionen angeht, seine Macken und seinen Mehrwert, haben es nicht einmal die berühmtesten Hirnforscher. Die können zwar mit einiger Gewissheit sagen, für welche Tätigkeiten des Menschen welche Region im Kopf zuständig ist, denn sie sind dank modernster Durchleuchtungstechnik in der Lage, dem Gehirn beim Arbeiten zuzuschauen. Aber wenn es dann einmal einige Aussetzer hat, weil irgendein Rädchen hakt (ja, wenn’s denn so einfach wäre), kommt die Ungewissheit ins Spiel. Woran liegt’s? Hat eine Synapse ihren Dienst eingestellt? Ist der synaptische Spalt zugeklappt? Was es mit diesen Dingen auf sich hat, erzählt und erklärt Markus Reiter kurz und knapp, und allein die Tatsache, dass man bis zum Ende gelesen hat, sorgt schon dafür, dass das Gehirn mal wieder trainiert und damit auch ein bisschen sportlicher geworden ist.

Von besonderem Interesse ist das Kapitel über Intelligenz, von der ja jeder glaubt, genug zu haben. „Bei über zwei Dritteln der Bevölkerung liegt der Intelligenzquotient zwischen 85 und 115, also innerhalb einer Standardabweichung (bei einem Median von 100)“, schreibt Reiter. „Genies und totale Idioten sind selten. Dummerweise hat man das Gefühl, Letzteren häufiger zu begegnen, als es statistisch der Fall sein dürfte. Das kann daran liegen, dass die gemessene Intelligenz und die Selbsteinschätzung der eigenen Intelligenz unglücklich zusammenhängen. Kurz gesagt: „Dumme Menschen sind zu dumm, um zu erkennen, dass sie dumm sind.“ Und von diesen besonderen Exemplaren hat wohl jeder schon eines getroffen.

Und jetzt wird’s öde. Was ist Langeweile? Damit beschäftigt sich das andere Bändchen der 100er-Reihe. Eine Antwort darauf versucht die Journalistin Barbara Streidl. Auf die Idee dazu gekommen ist sie während eines Krankenhausaufenthalts, bei dem sie außer Lesen nicht viel anderes tun konnte – sich aber keineswegs gelangweilt hat, wie sie beteuert. Weit holt sie aus, um das Phänomen des „Was-soll-ich-bloß-mit-mir-anfangen?“ zu erkunden – bis zu den Göttern des Olymp und der Bibel. Bei der Lektüre wird dem Leser allerdings mehr und mehr klar, dass das Thema schlüpfrig ist wie ein Aal – und eben kaum zu fassen. Das liegt sicherlich auch daran, dass 100 Menschen 100 verschiedene Ansichten darüber haben, was denn nun langweilig ist. Für den einen ist es ein Museumsbesuch, für den nächsten ein Fußballspiel, für einen dritten eine Familienfeier und für den vierten eine Schulstunde (wobei man sich diesbezüglich wohl noch am ehesten einigen könnte – jederzeit und weltweit).

Also zitiert Streidl berühmte und berühmteste Zeitgenossen, die sich – vielleicht, weil sie sich gelangweilt haben – mit der Langeweile beschäftigt haben. Freilich: Kaum tut man das, ist dieser Zustand ja auch schon wieder vorbei. „Für den Denker (…) ist Langeweile jene unangenehme ,Windstille‘ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“, schreibt Friedrich Nietzsche, und ein paar Jahrzehnte später notiert sein Kollege Martin Heidegger: „Die tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen.“ Wiederum vorausgesetzt, alle langweilen sich gleichzeitig. Goethe dagegen sieht auch das Positive in der gedehnten Zeit: „Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.“ In seinen Augen ist Langeweile also eine edle Empfindung, die uns von den Tieren unterscheidet. Und er kann in ihr sogar ein schöpferisches Element entdecken: „Langeweile ist ein böses Kraut / Aber auch eine Würze, die viel verdaut.“

Ja, was denn nun? Nach vielen Aussprüchen, Aphorismen und Zitaten trifft Streidl selbst die Aussage: „Wir verstehen Langeweile als ein ,Bringt mich nicht weiter‘. Stillstand. Unproduktivsein. Nichtstun. Faulenzen …“ Moment mal - Faulenzen? Das soll langweilig sein? Das ist doch der Zustand, in dem man die Seele baumeln lassen und neue Kräfte sammeln kann.

Zum Schluss also noch mal die Frage: Was ist Langeweile? Formulieren wir es einmal so: Hoffentlich nichts, was Sie beim Lesen dieses Artikels empfunden haben. Rainer Nolden

Markus Reiter, Gehirn. Reclam Verlag, 100 Seiten, 10 Euro.

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Barbara Streidl, Langeweile. Reclam Verlag, 100 Seiten, 10 Euro.

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