Lesetipps Einladung zur Bücherwanderung

Corona ist noch nicht erledigt und Lesen geht ja sowieso immer: Deshalb heute noch einmal ein Schwung mit Empfehlungen für alle, die gerne zwischen Buchdeckeln unterwegs sind.

 Man kann übrigens auch in einer Waldhütte prima lesen. Sofern sie nicht schon von einem Literaten besetzt ist.

Man kann übrigens auch in einer Waldhütte prima lesen. Sofern sie nicht schon von einem Literaten besetzt ist.

Foto: Fritz-Peter Linden

Irgendwie schade. Im vergangenen Frühjahr, im ersten, so fernen Corona-Lockdown, haben wir uns hier im TV nahezu überschlagen mit Empfehlungen zur Lektüre für all die Zeit, die wir damals übrig hatten. Das ist ein bisschen verlorengegangen in den Monaten danach.

Dabei nehmen uns Bücher doch huckepack auf all die Reisen, die wir seit mehr als einem Jahr nicht mehr antreten können. Und wer weiß, wann uns das wieder unbeschwert möglich ist.

Deshalb überschlagen wir uns heute einfach mit einem weiteren Päckchen voller neuer oder fast neuer Bücher.

Springen wir einfach hinein – und sehen ganz vorn: Zwei Romane zum Thema „seltsame Arbeitswelt“. Das eine stammt von der amerikanischen Autorin Hilary Leichter, heißt im Original „Temporary“, auf Deutsch „Die Hauptsache“ und erzählt von einer namenlos bleibenden Frau, die sich mit den wirklich allerseltsamsten Arbeiten durchs Leben schlägt – als „Temporary“, was man als Zeitarbeiterin oder, in bestens vermengtem Denglisch, Jobberin, übersetzen kann.

Sie arbeitet als Piratin, als Gehilfin eines Killers, als Schuhschrankbetreuerin und als Seepocke, die mit anderen Seepockendarstellern auf einem Felsen im Meer abhängt. Ja, das klingt behämmert, wenn man sich aber darauf eingelassen hat, stellt man fest: Genau so ist es doch in der Arbeitswelt. Wie viele von uns müssen den größten Quatsch machen, um irgendwelchen Chefs zu gefallen und damit ein paar armselige Kröten zu verdienen. Das Ergebnis: ein gewitztes und berührendes Buch. Denn auch diese Erzählerin sehnt sich nach stabileren Verhältnissen, während sie sich abrackert, um sich irgendwann einmal einen festen Job zu verdienen. Und wenn es einer in der Zeitarbeitsagentur ist. Arche, 230 Seiten, 20 Euro.

Seltsame Jobs zum Zweiten: Jörg-Uwe Albig, „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus.“ Albig beeindruckte zuletzt mit „Zornfried“, seiner großartigen Satire auf neorechtes, völkisches Gedenke, Gereime und Gebrumm (hier im TV ebenfalls empfohlen), und sein neuer Roman ist, man stellt es begeistert fest, wieder toll: Katrin Perger ist Unternehmensberaterin, sie wird von der Firma „Human Solutions“ angeheuert, um dem Laden auf die Sprünge zu helfen. Dabei handelt es sich um einen durch und durch traditionellen, schwäbischen Familienbetrieb, in irgendeinem durch und durch typischen, nichtssagenden Gewerbegebiet – nein, „Businesspark“ – untergebracht. Die Chefin heißt, schön schwäbisch, Sabine Seggle. Top-Dialog zu Beginn: Wie viele Menschen arbeiten bei Ihnen? Antwort: fünfzig Prozent.

Man beackere eine Nische, erläutert diese Frau Seggle, aber darin sei man „ganz weit vorn“, und es gehe „um den Wert des Menschen an sich“. Das ist wörtlich gemeint. Denn „Human Solutions“ ist spezialisiert auf Entführungen. In die Erzählung hineingeschnitten sind immer wieder Passagen aus Katrin Pergers nie abgegebener Diplomarbeit (die dem Roman auch den Titel gibt), in denen es nicht zuletzt darum geht, dass wir alle Geiseln des Marktkapitalismus sind und, siehe Stockholm-Syndrom, gar nicht mehr anders können, als uns konform zu verhalten. Und da ist es auch egal, womit man sein oder anderer Leute Geld verdient. Die Entführung, in die auch Katrin Perger verwickelt wird, geht übrigens gut aus, richtig gut, mit herrlichem Coda. Klett-Cotta, 240 Seiten, 20 Euro.

Nächstes Thema: Bisschen Theorie vielleicht? Die aber Spaß macht? Hier: zwei Bücher über das Lesen und darüber, wie man zu einem (noch) besseren Leser wird. Schon im vorigen Jahr erschienen ist Michael Maars hinreißende Stilkunde unter dem Titel „Die Schlange im Wolfspelz“, in der endlich einmal nicht nur die üblichen Verdächtigen der deutschsprachigen Literatur aufgeführt sind, sondern eben auch viele Autoren, die es selten in den Kanon schaffen. Heimito von Doderer, Brigitte Kronauer, Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt oder Wolfgang Herrndorf zum Beispiel, hinzu kommen echte Entdeckungen wie Regina Ullmann. Regina wer? Eben. Eine weitere Überraschung: Hildegard Knef. Maar macht das großartig, elegant und gewitzt, liefert tolle Beispiele, hält uns durchweg bei der Stange, erläutert nebenbei auch, wo der Hyperstilist Thomas Mann in die Grütze griff und hinterlässt den Leser, zumindest diesen Leser, am Ende mit dem starken Wunsch nach: mehr. Ein Buch über die Kunst des Schreibens, das selbst ein Schreibkunstwerk ist. Rowohlt, 650 Seiten, 28 Euro.

Etwas weiter gefasst als bei Michael Maar ist der Ansatz von Herman Kurzke: „Literatur lesen wie ein Kenner“ heißt das neue Buch des emeritierten Professors für neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz, untertitelt als „Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser“. Und es stimmt: Mehr als eine Leidenschaft fürs Lesen braucht man nicht, um hier mit Gewinn gut durchzukommen, obwohl Kurzke mit fundiertem, Zitat, „Analysebesteck“ ans Werk geht. Seine Betrachtungen, das mag ungewöhnlich klingen, beginnen immer bei Texten aus dem Werk Heinrich von Kleists, um dann, über diesen „innersten Ring“ hinaus, weitere Beispiele aus der deutschen Literatur und zuletzt, im dritten Ring, internationale Autoren zu betrachten.

Aber: Es funktioniert. Man lernt ganz viel und ganz nebenbei, zumal sich Kurzke auch nicht toujours an seine Ring-Unterteilung, dafür aber durchgehend an einen freundlich-moderierenden Ton hält. Und so stellt sich der erfreuliche Effekt ein, dass man dort, wo noch Lücken sind (und welcher Leser hätte keine), mehr von den hier vorgestellten Autoren und Werken lesen will. CH Beck, 400 Seiten, 28 Euro.

Kommen wir zur neueren Hüttenliteratur, die seit Corona immer mehr zum eigenen Genre wird. Derzeit quartiert sich ja jeder im Tiefgrünen ein, der einen kennt, der einen Hüttenschlüsselbesitzer kennt, um Einsamkeit, Fauna, Flora und vor allem „sich“ zu erfahren (wir warnen dennoch vor sturmbedingtem Windbruch).

Das tat auch Linus Reichlin. Motto: „Während andere Home-Office machten, machte ich Wood-Office.“ Sein Bericht „Ein Stadtmensch im Wald“ ist nicht so komisch, wie man erwarten (und wie er vielleicht gewollt sein) mag, wird aber immer besser, je weiter man auf den gerade einmal 110 Seiten vorankommt: Weil sich Reichlin dann doch nicht um Zwangswitzigkeit bemüht, sondern mit jedem Tag mehr auf die einlässt, die ihn in, auf und vor seiner Butze besuchen: von allerlei Vögeln über den rabaukigen Waschbären bis zu einem kranken Fuchs, für den der Verfasser immer mehr Mitgefühl entwickelt.

Sonderpunkt: Der Waldausflug enthält den, siehe oben, aktuell besten Satz über Thomas Mann. An einer Stelle nämlich sinniert der Autor, er würde jetzt gern eine von Manns Geschichten lesen, in denen „die Menschen wohlgeformte Schicksale durchlebten, die durch die Freundlichkeit des Erzählers bei aller Tragik den Leser nicht verstörten“. Halber Punktabzug aber für das Pseudonym „H.D. Walden“ (schon klar, H.D., Henry David Thoreau, der Urvater aller Hüttenliteratur, dessen „Walden“ hier ebenfalls schnell nochmal empfohlen wird). Galiani Berlin, 110 Seiten, 14 Euro.

Bereits im vorigen Jahr erschienen und deutlich tiefer gründelnd als das Nebenwerk von Reichlin: „Heimkehr“ von Wolfgang Büscher („Berlin-Moskau“, „Deutschland, eine Reise“). Auch er zog in den Wald, in eine Jagdhütte ganz in der Nähe des Dorfs, in dem er aufwuchs. Die titelgebende Heimkehr wird aber nicht nur eine geografische. Die Mutter des Autors stirbt – und es beginnt eine Meditation über Kindheit, Familie, Traditionen und Herkunft. Romantisiert wird hier nichts, melancholisch ist „Heimkehr“ trotzdem. „Ich suchte mir einen Platz draußen mit Blick weit ins Land und sah der Sonne zu, wie sie in die schöngestaffelten Hügel im Westen sank, wie der rote Ball auf der dunklen Linie aufkam, wie es ihn quetschte und er beinah geplatzt wäre, bevor er in die Wälder fiel, aus denen ich kam.“ Rowohlt Berlin, 200 Seiten, 22 Euro.

 Jörg-Uwe Albig.

Jörg-Uwe Albig.

Foto: Klett-Cotta/Christina Zück

Und Feierabend fürs Erste. Letzter Vorschlag: Anstatt zu Amazon zu gehen und Herrn Bezos noch reicher zu machen, an die Buchhandlungen in unserer Region denken. Die besorgen alles flott.

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