Literatur Ein großer Sommer zum Vergessen
Enkirch · Rückkehr an die Mosel: Schriftsteller und Musiker Thorsten Nagelschmidt stellt am Samstag seinen neuen Roman im Moselort Enkirch vor. Das hat einen besonderen Grund.
Ein Punkrock-Sänger, der auf der Bühne bevorzugt Weißwein trinkt? Nicht Dosenbier, nicht Schnaps? Das Klischee geht anders. Aber mit Stereotypen hat sich Thorsten Nagelschmidt nie lange aufgehalten. Nicht in den anderthalb Jahrzehnten auf der Bühne als Frontmann von Muff Potter – die Band hat sich vor acht Jahren aufgelöst. Und auch nicht danach, als Roman-Autor und bildender Künstler. Dass Nagelschmidt, der bis vor kurzem nur vornamenslos als „Nagel“ unterwegs war, seinen neuen Roman „Der Abfall der Herzen“ zwischen Lesungen in Berlin, Leipzig oder Mannheim ausgerechnet auch im Moselörtchen Enkirch vorstelllt – das liegt am Weißwein. Und an Winzer und Gastgeber Daniel Immich, der früher selbst in einer Hardcore-Band sang. „Daniel sprach mich an, weil ich immer diesen billigen, klebrigen Aldi-Wein auf der Bühne getrunken habe“, erinnert sich Nagelschmidt. Er besuchte ihn auf dem Weingut in Enkirch – und fand an der Mittelmosel zugleich das perfekte Setting, seinen Romanhelden in „Was kostet die Welt“ gnadenlos scheitern zu lassen. Vor gut einer Woche ist nun Nagelschmidts neuer Roman erschienen, sein dritter und bisher autobiographischster (440 Seiten, S. Fischer, Hardcover, 22 Euro). „Der Abfall der Herzen“ ist eine Spurensuche im Jahr 1999. Ein Zurück in die Zeit und Gefühlswelt mit Anfang 20. Die erste WG, das Ende der großen Liebe, es ist der vielleicht wichtigste Sommer im Leben – mit der Erkenntnis, wie viel man vergessen, verklärt, verloren hat. In einer Zeit, die keine zwei Jahrzehnte zurückliegt, die aber die Erinnerung anders blühen ließ als heute: Handys waren Luxus, das Internet eine große Bibliothek, aber kein Ort, um das eigene Leben zu dokumentieren. „Ich hatte damals kein Handy“, sagt Nagelschmidt. „Noch nicht einmal einen Computer.“ Er konnte zumindest nachlesen. „Im Sommer 1999 habe ich angefangen, täglich Tagebuch zu schreiben. Das hat über die Jahre manische Züge angenommen“, erinnert er sich. „Ein wichtiger Punkt für mich war: Warum ist mein Gedächtnis so schlecht, obwohl ich alles aufschreibe? Meine Vermutung ist: Es ist so schlecht, eben weil ich alles aufschreibe. Weil es nicht ums Festhalten geht, sondern ums Loslassen.“ Im Roman geht es um Freundschaft und Verlust, aber auch um Identität, um die vielen Wirklichkeiten und Wahrheiten. Es ist eine Hommage an die Außenseiter in der westfälischen Provinz – und wie unterschiedlich sie sich über die Jahre entwickelt haben. Nagelschmidt hat sie alle wiedergetroffen, die Freunde und Bekannten, er hat ihre Geschichten gehört, die Flut an Widersprüchen. „In dem Moment, in dem etwas in Sprache verwandelt wird, ob Gefühle, Gedanken oder Erlebnisse - da beginnt bereits die Fiktionalisierung. So funktioniert Erinnerung: Man versucht, Ordnung zu schaffen im Chaos. Man möchte, dass alles einen Sinn ergibt.“
Nach langer Recherche- und intensiver Schreibzeit („Ich habe die letzten anderthalb Jahre nur an Dialogen gefeilt und Kommata versetzt“) freut sich der vielleicht professionellste aller Autodidakten, wieder auf die Bühne zurückzukehren. Denn das Gefühl habe sich zwischen den 90ern und gar nicht so verändert. „Die Band war für uns damals das Ticket aus der Kleinstadt. Wenn wir jedes Wochenende zu ein, zwei Konzerten rausgefahren sind, dann haben wir denen immer entgegen gefiebert. Ich wohne inzwischen in Berlin, manches ist sicher anders - aber das eine ist geblieben: Die Freude, loszufahren und wieder auf der Bühne zu stehen. Und ich mache ja keine Wasserglas-Buchhandlung-Lesung - es geht um Unterhaltung im positiven Sinne. Da gerät man ins Plaudern und reagiert aufs Publikum. Das wird auch in Enkirch so sein. Ich freue mich schon, dass ich nach so langer Zeit wieder dort sein werde.“