Chancengleichheit bei der Bildung ist das Ziel - Grundschule Martin in Trier zeigt, wie der Anfang gelingen kann

Alle Kinder sollen gleiche Chancen bei der Bildung haben. Dieser Anspruch ist seit einem Jahr in Rheinland-Pfalz sogar Gesetz. In der Realität ist der Weg zur Inklusion allerdings beschwerlich, trotz vieler Bemühungen.

Yannis blickt nur kurz auf und fixiert dann sofort wieder aufmerksam den Boden in dem Pflanzkasten auf dem Pausenhof. "Wir schauen uns die Insekten an, was die so machen", sagt der Neunjährige. Lisa zeigt ihr Schauglas. Durch die Lupe sind zwei Ameisen zu sehen, die da aufgeregt im Innern krabbeln. "Das ist eine Erwachsene und ein Kind", ist sie überzeugt angesichts der unterschiedlichen Größe der Tierchen.
In der Grundschule Martin im Trierer Norden ist an diesem Tag Atelierarbeit angesagt. Für zwei Stunden bleiben dann die Zwischentüren der Klassenräume geöffnet, und die Kinder können sich aussuchen, ob sie ein Thema aus Sicht der Fächer Kunst, Deutsch, Mathematik oder Sachkunde angehen wollen. Der Wald steht an diesem Tag im Mittelpunkt.Zukunft Bildung In der Region


"Jedes Kind lernt dabei eigenständig und in seinem individuellen Tempo", erläutert Norbert Ruschel das Konzept. Der Schulleiter der nur einige hundert Meter entfernten Ausonius-Grundschule, die als offizielle Schwerpunktschule auch von behinderten Kindern besucht wird, ist derzeit auch kommissarischer Leiter der Martin-Grundschule. Ruschel ist ein inniger Verfechter der Inklusion. "Es geht dabei um wesentlich mehr als die Integration von Behinderten."
An jeder Schule gebe es auch verhaltensauffällige Kinder und solche mit besonderem Förderbedarf. "Zusätzliche Lehrerstunden bekommt man allerdings nur dann, wenn das auch offiziell anerkannt wird", sagt Ruschel und deutet damit das Dilemma aus Sicht der Schulen an, dass viele Eltern aus Angst vor einer Stigmatisierung ihres Kindes genau das nicht wollen. Das führt letztlich dazu, dass oft nicht die Zahl von Lehrern oder Lehrstunden genehmigt sind, die für einen wirklich inklusiven Unterricht notwendig wären. "Die Förderschulstunden nach Kindern mit Förderbedarf zu berechnen, ist ein falscher Gedanke", sagt Norbert Ruschel.
Für die Martin-Grundschule war es ein Glücksfall, dass sie gemeinsam mit der Ausonius-Grundschule in das Förderprojekt "Gemeinsam klasse - Inklusion macht Schule" aufgenommen wurde, das die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gemeinsam mit der Nikolaus-Koch-Stiftung aufgelegt hatte.
Norbert Ruschel: "Uns geht es auch darum, wie die Inklusion trotz der personell geringeren Ausstattung an Regelschulen ohne Schwerpunkt gelingen kann. Die Ausonius-Schule wird dabei vor allem als Coach gebraucht."
Bei der Atelierarbeit, die in St. Martin der erste Schritt in Richtung des gleichberechtigten Lernens ist, haben die Lehrer nun Unterstützung von Studenten der Uni Trier. "Die Lehrer werden zum Lernbegleiter, es gibt dann keinen Frontalunterricht. Alleine können die das nur schwer realisieren."
Chiara (9) zeigt ihre kleine Säule, die sie aus Knetmasse geformt hat. "Das ist ein Baumstamm", sagt sie. Der Klang von Holzinstrumenten ist aus dem Nachbarraum zu hören. Niclas (8) - "auf die Atelierarbeit freue ich mich die ganze Woche" - malt am Nachbartisch ein Comic in sein Lerntagebuch. Jeder Schüler muss ein solches führen, um seine Arbeit zu dokumentieren.
"Alle Schülerinnen und Schüler werden gefördert und gefordert", formuliert Norbert Ruschel das Grundprinzip. "Wir haben sehr viele Kinder mit Beeinträchtigungen im Bereich Lernen. Die können auch rückgängig gemacht werden, wenn Lehrer und Eltern zusammenstehen." Eltern müssten sich dafür interessieren, was in der Schule passiert. Das sei an der Ausonius-Grundschule vorbildlich. Lob zollt der Doppelschulleiter auch der Stadt Trier: "Die Schulsozialarbeit wurde hier stark gefördert."
Natürlich geht es beim Thema Inklusion auch um die Sprache. Denn wenn drei Kinder, die kein Deutsch sprechen, in eine Klasse kommen, geraten Lehrer an die Belastungsgrenze. Dieses Thema wird angesichts der erwarteten Flüchtlingsfamilien in der Region an vielen Schulen zum Thema. "Auch hier ist gute Elternarbeit wichtig", sagt Ruschel. "Vor allem sollte den Kindern aber erlaubt werden, in Vereine zu gehen, um Freunde zu finden und die Sprache schnell zu lernen."
Das reformierte Schulgesetz in Rheinland-Pfalz hat dazu geführt, dass Inklusion immer mehr in den Bildungsstätten des Landes ankommt. In der Stadt Trier, wo eine Stabsstelle der Stadtverwaltung die Erstellung eines Aktionsplanes Inklusion vorantreibt, war der Andrang für die Arbeitsgruppe Schule, Erziehung und Bildung sogar so groß, dass der Bereich Schule zu einer eigenen Gruppe gemacht wurde.
Brigitte Fischer, Leiterin der Abteilung Schule und Kultur bei der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), sieht die Region insgesamt gut aufgestellt. "Beim Thema Inklusion bauen wir das System jedes Jahr weiter aus. Die ADD berät dabei die Schulträger."
Der neunjährige Yannis hat im Schulhof der Martin-Grundschule derweil andere Probleme. Wie bekommt er nur noch viel mehr Insekten in sein Schauglas?
Die Möglichkeiten des Schulsystems in Rheinland-Pfalz stehen am Montag im Mittelpunkt unserer Serie. Alle Beiträge finden Sie unter www.volksfreund.de/bildungExtra

Das Land hat im Sommer 2014 das Thema Inklusion im Schulgesetz verankert. Der Start in eine neue Ära des gleichberechtigten Lernens gelingt allerdings nicht reibungslos. Es gibt noch keine einheitliche Definition des Begriffs Inklusion. Personell gefördert werden ausschließlich Schwerpunktschulen und Förderschulen. Regelschulen mit Kindern ohne offiziell anerkannten Förderbedarf bleiben außen vor. r.n.Extra

Inklusion bedeutet weit mehr als Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Der Begriff steht ganz grundsätzlich für Vielfalt, Selbstbestimmung und Teilhabe aller Menschen an sämtlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Für die Schule bedeutet das eine individuelle und gezielte Förderung der verschiedenen Potenziale aller Kinder und Jugendlichen. So ist es nicht nur wegen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung wichtig und richtig, dass sich rheinland-pfälzische Schulen Schritt für Schritt auf den Weg zur inklusiven Schule begeben. Claudia Nittl, Chefredakteurin der Zeitschrift Pädagogik-Leben, Speyer

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