Analyse Wird Deutschland wegen Corona zu einer Nation der Streber und Rabauken?

Linke rufen nach der Polizei, Rechte geben sich antiautoritär – seit Corona passen die politischen Schubladen nicht mehr. Was ist hier passiert? Ein Essay von Frank Jöricke.

 Ein Riss geht durch Deutschland. Karikatur /

Ein Riss geht durch Deutschland. Karikatur /

Foto: Roland Grundheber

Erinnern Sie sich noch an die Schulzeit? In jeder Klasse gab es Streber und Rabauken. Erstere lernten fleißig und befolgten die Regeln. Letztere waren faul und störten den Unterricht. Beide Gruppen empfanden nicht allzu viel Sympathie füreinander. Die Rabauken verachteten den Gehorsam und Biedersinn der Braven. Die Streber empfanden Schadenfreude, wenn die Störenfriede bestraft wurden oder sitzenblieben.

Später, in Studium und Berufsleben, schliffen sich die Gegensätze ab. So mancher Streber schlug auch mal über die Stränge, und nicht wenige Rabauken entwickelten sich zu zahmen Büroangestellten oder Außendienstlern. Es war nun möglich, dass sich die einst verfeindeten Lager auf Klassentreffen nett unterhielten. Wir werden alle älter und milder.

Hatte man geglaubt. Dann kam Corona und etwas Merkwürdiges geschah. Zunächst, in jenen stillen sieben Wochen der ersten Ausgangssperre, entdeckten viele die Entschleunigung. Kein Berufsverkehr, keine Bürohektik, keine Überstunden (sofern man nicht im Krankenhaus arbeitete). Die Mischung aus Homeoffice und Kurzarbeit bescherte Zeit. Die nutzten manche für Serien-Marathons – mit dem Lockdown schoss die Zahl der Netflix-Abos nach oben – und manche für Marathon-Wanderungen. Traumschleifen wurden die neue Realität.

Aber es gab auch eine andere Wirklichkeit. Eine weniger idyllische. In Zeiten der Kita- und Schulschließungen wurde vielerorts die Wohnung zur Falle. Familien, die das permanente Aufeinanderhocken an ihre nervlichen Grenzen brachte, Kinder, die – nicht nur schulisch – den Anschluss verpassten, Singles und alte Menschen, die vereinsamten. Die Erlebnisberichte dieser Shutdown-Geschädigten unterscheiden sich grundlegend von jenen, die den eigenen Garten neu entdeckten und sich eine Terrassenüberdachung zulegten – my Home is my Urlaubsort. Doch nicht nur die Wohnsituation, auch die Berufswahl konnte mit einem Mal fatale Folgen haben. Für Staatsdiener und Angestellte änderte sich allenfalls der Arbeitsort, während zahlreichen Freiberuflern und Künstlern die Einnahmen wegbrachen.

Und dann gibt es noch eine dritte Wirklichkeit: die ganz persönliche, subjektive. Manche empfinden Abstandsregeln, Maskenpflicht und Testzwang als massiven Eingriff in ihre Bürgerrechte. Nichts weniger als die Demokratie sehen sie in Gefahr. Das Regelwerk zur Eindämmung der Seuche betrachten sie als Teufelswerk.

Es ist alles ziemlich unübersichtlich geworden. Obwohl das öffentliche Leben überall und allumfassend runtergefahren wurde, hat jeder eine andere Pandemiegeschichte zu erzählen. Allein in Deutschland gibt es 83 Millionen verschiedene Corona-Erlebnisse (und knapp 93.000 davon endeten tödlich). Was für die einen eine willkommene Auszeit war, wurde für die anderen zum Alptraum. Die von Politikern beschworene „neue Normalität“ hat daher grundverschiedene Gesichter. Je nach individueller Lebenslage fühlt sie sich wahnsinnig angenehm, leidlich oder unerträglich an.

Das war mal anders. In der alten Normalität, die im März 2020 endete, hatten sich die Bewohner eines ganzes Landes darauf verständigt, dass sie ein vergleichbares Leben führten. In Deutschland gehörte jeder zur Mittelschicht, zumindest gefühlt. Kein Facharbeiter hätte von sich behauptet, er wäre Teil der Arbeiterklasse. Die Deutschen definierten sich nicht über ihr Wohlstandsniveau (auch weil man hierzulande – anders als in den USA –über Geld und Gehälter nicht offen spricht), sondern allenfalls darüber, wo sie politisch standen. Dabei bedienten sie sich der gleichen Kategorien wie vor 50 oder 100 Jahren; es gab Rechte und Linke und viele Grautöne und Feinabstufungen in der Mitte. Wer rechts stand, befürwortete einen autoritären Staat, der konsequent Vergehen ahndete und Strafen verhängte. Wer sich links positionierte, zweifelte das Gewaltmonopol des Staates an und stellte die Polizei unter Generalverdacht.

Auch diese Zuordnungen haben sich mit der Seuche erledigt. Die rechte AfD will einen Laissez-faire-Staat, der bei Corona fünfe gerade sein lässt und sich aus allem raushält. Die Linkspartei hingegen begrüßt es, dass Polizisten Pandemiebestimmungen kontrollieren und durchsetzen. Verkehrte Welt? Es wird noch doller! Bereits bei den ersten Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Regierung, im Sommer 2020, staunte man nicht schlecht, wer dort Hand in Hand marschierte. Von Neonazis über liberale Grundgesetzverteidiger bis zu esoterischen Hippies war so ziemlich alles vertreten. Einträchtig wehten Reichsflaggen und Regenbogenfahnen nebeneinander. Seit diesem Schulterschluss erübrigt sich die Frage, wo die Gegner der Pandemiemaßnahmen politisch stehen – es ist wurscht. Aus rechts und links wird „lechts und rinks“ (Ernst Jandl). Das alte Vokabular taugt nicht mehr, um die neue politische Welt im Jahre anderthalb nach Corona zu begreifen.

Aber vielleicht hilft es, ein paar Schritte zurückzutreten und die Angelegenheit grundsätzlicher zu betrachten. In Zeiten der Krise tritt der Charakter eines Menschen deutlicher zu Tage als im Einerlei des Alltags. Wer sich permanent zusammenreißen muss, dem reißt irgendwann der Geduldsfaden. Wo die Nerven blankliegen, hat die Heuchelei ein Ende. Selbst der beste Schauspieler lässt in Ausnahmesituationen die Maske fallen. Und genau das ist geschehen. Die Serie von Corona-Wellen und den damit verbundenen Einschränkungen hat offenbart, wie Menschen zu Regeln stehen.

Es ist wie damals in der Schule. Die ganze Nation sitzt wieder im Klassenzimmer. Nur sind die Lehrer diesmal die Politiker. Und die Schüler, das sind wir, die Bürger. Wie ehedem teilt sich die Klasse in Streber und Rabauken. In jene, die Verbote und Vorschriften bejahen, und jene, die dagegen aufbegehren.

So geht’s bisweilen ziemlich laut und auch chaotisch im nationalen Klassenzimmer zu. Wir sind wieder zu Kindern geworden. Und manche zu Kindsköpfen.

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