Missbrauch „So setzte sich die kriminelle Karriere des Missbrauchstäters fort“

Trier · Lena Haase und Lutz Raphael haben den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Bistum Trier in der Amtszeit Bernhard Steins erforscht und einen Zwischenbericht vorgestellt. Viele Aspekte bisheriger Recherchen haben sich bestätigt. Darunter ein bekannter Fall.

 Seit 2011 gibt es in Trier den Bischof-Stein-Platz. Zuvor hieß die zum Teil als Parkplatz genutzte Fläche Hinter dem Dom.

Seit 2011 gibt es in Trier den Bischof-Stein-Platz. Zuvor hieß die zum Teil als Parkplatz genutzte Fläche Hinter dem Dom.

Foto: Roland Morgen

Die Forschenden Lena Haase und Lutz Raphael haben eine Mammutaufgabe bewältigt: Sie wälzten 494 interne Bistumsakten, führten Gespräche mit Zeitzeugen und belegten, dass es in der Amtszeit des Trierer Bischofs Bernhard Stein (1967 bis 1981) 305 Betroffene und 81 Beschuldigte gab. Vorläufige Zahlen, höher sind als die bislang bekannten. Von 17 der 81 Täter und Beschuldigten hat Stein gewusst, mit 11 war er befasst. Wie sind der Bischof und seine wichtigsten Leute mit ihnen umgegangen?

In einem Kapitel der „Stein-Studie“ (kompletter Bericht hier) stehen Fallbeispiele: Besonders prekär ist der anonym geschilderte Fall A. „Am 6. Juli 1966 fand ein Gespräch zwischen Reinhold Schäfer, dem Personalverantwortlichen der Bistumsverwaltung in Trier und einer Katholikin aus der Eifel statt, das vom Pfarrer aus der Nachbarschaft vermittelt worden war“, heißt es auf Seite 25. Die Frau habe von insgesamt sechs „Verfehlungen“ A.s mit ihrem damals 13-jährigen Sohn berichtet. Zeitnah sei dieser Fall während einer Personalbesprechung unter anderem mit Bischof Steins Vorgänger Matthias Wehr auf den Tisch gekommen. Der Beschluss: Dem Kaplan wurde Exerzitien auferlegt.

Gut anderthalb Jahre später beschäftigte A. wieder die Bistumsleitung – nun mit Bischof Stein an der Spitze. Sein damaliger Offizial hatte von A.s Missbrauchstaten erfahren und an Stein geschrieben, dass „[e]ine Sühne für diese Verfehlungen […] bisher nicht erfolgt“ sei.

Laut Studie entschied sich Stein für ein mildes Vorgehen und gegen eine strenge Anwendung der kirchen- und strafrechtlichen Normen. Er verordnete dem Kaplan erneut Exerzitien, bevor er ihm zum 1. Juli 1968 seine erste Pfarrstelle in der Eifel übertrug – plus vier Stunden Religion an einer berufsbildenden Schule. Es sollte nicht seine letzte Stelle als Religionslehrer sein.

Wie ging es weiter? Auch in der neuen Pfarrei habe sich A. an Messdienern und anderen Jugendlichen vergangen. „So setzte sich die kriminelle Karriere des Missbrauchstäters fort.“ Seit Sommer 1971 sei er wieder regelmäßiger Tagesordnungspunkt in den Personalbesprechungen gewesen – bis A. 1973 Stein um Laisierung bat und aus dem Priesterstand enthoben wurde. Der Intensivtäter, wie er in der Studie auch genannt wird, heiratete und arbeitete als Religionslehrer in einem anderen Bundesland. „Das Geheimhaltungsgebot galt noch immer“, schreiben Haase und Lutz. In den internen Listen laisierter Priester tauche er nicht auf. „Zwischen 1962 und 1972 missbrauchte A. mindestens 22 Kinder und Jugendliche.“ Die Dunkelziffer sei hoch einzuschätzen.

Thomas Schnitzler, Historiker und Mitbegründer der Trierer Opferinitiative Missbit e.V. wurde von A. in einer Pfarrei in Trier missbraucht. 2010 hatte der Trierische Volksfreund über den Fall berichtet. Es meldeten sich viele weitere Betroffene. Schnitzler recherchierte gegen großen Widerstand aus dem Bistum Trier seinen eigenen Fall weiter, sowie 64 Fälle, die er in einem Buch „Geschädigte durch Kindesmissbrauch und sexuelle Gewalt im Bistum Trier“ veröffentlichte.

 Bischof-Stein-Platz in Trier.

Bischof-Stein-Platz in Trier.

Foto: Roland Morgen

Es stellt sich die Frage: Wie viele und welche Beweise braucht es, um sagen zu können, Verantwortliche im Bistum Trier haben Missbrauch vertuscht und Kinder gefährdet? Die erste Bilanz der „Stein-Studie“ knüpft auch an Schnitzlers Buch an. „Die meisten der dort dargestellten Missbrauchstaten fallen in die Amtszeit Bernhard Steins.“ 49 der 65 Fälle könnten nach jetzigem Stand unserer Akten basierten Recherchen ausdrücklich bestätigt werden, heißt es in der Studie.

Und da ist Fall B: Ein Teil der Gemeinde negiert, was der missbrauchende Täter getan haben soll, übt Druck auf die Bistumsleitung aus – der Beschuldigte bleibt.

Und Fall C.: Ein Pfarrer missbraucht ein Mädchen über acht Jahre (1967 – 1978) sexuell, seit es elf Jahre alt war. 30 Jahre später sagt die Betroffene, was passiert ist. Betroffene und Täter haben der Studie zufolge eine emotionale Abhängigkeit eingeräumt. 2011 schrieb C. an den Trierer Bischof Stephan Ackermann und ehemaligen Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz (2010 bis September 2022): Er habe in dem jungen Mädchen die Möglichkeit gefunden zu haben geglaubt, [s)eine Einsamkeit leicht und fröhlich zu überwinden. Und dafür war ich damals sehr dankbar. Auf lange Zeit war das ein gutes Miteinander.“

Der Bericht beleuchtet auch die persönliche Verantwortung Steins. Haase und Raphael messen diese an fünf Pflichtkreisen. Einer davon: Fürsorge für die Betroffenen: „Nach den Akten hat Bischof Stein in keinem Fall mit Betroffenen gesprochen.“ Auch bei der Sanktions- und Verhinderungspflicht sehe seine Bilanz bescheiden aus, intern sei er angezeigten Verdachtsfällen nachgegangen, mit der Staatsanwaltschaft habe er nicht kooperiert. 

Was folgt nun? Für Missbit-Sprecherin Jutta Lehnert ist klar, Bischof Stein habe durch Verhinderung von Strafverfolgung und geräuschlosem Versetzen von priesterlichen Tätern vertuscht, Taten verharmlost und Missbrauch in Kauf genommen. Auch das Verhalten des jetzigen Trierer Bischofs kritisiert sie. Seit 2010 wisse er um die Fälle in der „Stein-Zeit“, er habe vorgezogen, zu schweigen.

Lehnert sagt: „Ich habe Bischof Stein persönlich gekannt.“ Er habe die Jugendarbeit gefördert wie kein anderer Bischof. Dieser große Widerspruch sei für sie ein Rätsel. Die Fassade der Kirche sei dem damals obersten Seelsorger im Bistum Trier wohl wichtiger gewesen als Kinder vor großen Verletzungen zu schützen.

Missbit fordert seit langem die Umbenennung des Bischof-Stein-Platzes. Der Stadtrat lehnte entsprechende Anträge bisher ab. Ein Sprecher der Stadt Trier sagt auf TV-Anfrage, es sei davon auszugehen, dass das Thema auf der Tagesordnung der nächsten Stadtratssitzung stehen werde.