10. Paket gegen Russland Was haben die EU-Sanktionen bisher bewirkt?

Brüssel · Bis zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine will die EU das zehnte Sanktionspaket geschnürt haben. Obwohl das Land seit 2014 sanktioniert wird, konnte der Krieg bislang weder verhindert, noch gestoppt werden. Was ist also der Effekt?

Russlands Präsident Wladimir Putin Mitte Januar in einer St. Petersburger Fabrik.

Russlands Präsident Wladimir Putin Mitte Januar in einer St. Petersburger Fabrik.

Foto: AP/Ilya Pitalev

160 Millionen Euro Einnahmen entgehen Russland nach Angaben der EU-Kommission allein durch den gerade scharf gestellten Preisdeckel für Rohöl. Und zwar pro Tag. Bis zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar soll das zehnte Sanktionspaket der EU fertig sein, verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Wohl mit noch mehr Gütern, die nicht mehr gehandelt werden dürfen, und noch mehr Namen von Kriegsbeteiligten, die nicht mehr einreisen und ihre Vermögen in der EU nutzen dürfen. Doch die Wochen davor sind zugleich geprägt von Berichten, wonach Russland eine massive neue Offensive vorbereitet. Mit viel mehr Soldaten und noch mehr schweren Waffen. Zugleich korrigieren Wirtschaftsforscher ihre Prognosen für die russische Wirtschaft nach oben. Als hätte es die vielen Sanktionsrunden des Westens überhaupt nicht gegeben.

Aktuelle Statistiken sind der eine Blick auf die Situation des Kriegstreibers mit unbedingtem Willen zur Vernichtung einer eigenen ukrainischen Staatlichkeit. Sie können, so ist eine Vermutung, auch gefälscht sein. Putin lasse vor allem Daten verbreiten, die seinen Kurs bestätigen, und zwar unabhängig von jedem Wahrheitsgehalt, lautet die zentrale These einer Studie von Wissenschaftlern der amerikanischen Yale-Universität. Andererseits korrigierte sich jüngst der Internationale Währungsfonds in seinen Erwartungen. Im vergangenen Jahr sei die russische Wirtschaft nicht um zehn Prozent geschrumpft, sondern nur um 2,2. Und in diesem Jahr werde sie wohl nicht in einem ähnlichen Umfang schrumpfen, sondern um 0,3 Prozent wachsen, im nächsten sogar um 2,1 Prozent.

Dem steht die Erwartung entgegen, dass die westlichen Sanktionen erst allmählich ihre volle Wirkung entfalten. Das Sanktionspaket vom vergangenen Juni zum Stopp der Erdöllieferungen begann erst im Dezember zu greifen, der Preisdeckel trat erst an diesem Wochenende in Kraft. So war es möglich, dass wegen der stark gestiegenen Preise die Einnahmen Russlands im vergangenen Jahr sogar um ein Drittel steigen konnten, obwohl es das erklärte Ziel der EU war, den finanziellen Bewegungsspielraum Russlands so schnell wie möglich einzuengen, damit sich das Land den Krieg nicht mehr leisten kann.

Nach Berichten aus Moskau hat sich der Alltag der an westliche Marken gewöhnten Menschen in Russland radikal verändert. Rund tausend namhafte Firmen haben inzwischen ihre Geschäftsbeziehungen eingestellt. Die Ikea-Filialen sind genauso geschlossen wie die von McDonald’s. Es gibt keine Deichmann-Schuhe und keine Obi-Heimwerkerwaren mehr. Die meisten westlichen Neuwagen sind nicht mehr erhältlich. Mal eben eine Serie oder einen Film via Netflix zu streamen, funktioniert genauso wenig wie der Bestellbutton bei Amazon.

Die russische Wirtschaft hatte sich über Jahrzehnte zweiteilig aufgestellt: Rohstoffe zu niedrigsten Preisen aus heimischer Erde, Konsumgüter vor allem aus dem Westen oder aus russischen Fabriken westlicher Firmen. Dieses Prinzip funktioniert nicht mehr. Die Abhängigkeit von hochwertigen elektronischen Bauteilen aus Europa und aus den USA zeigt sich am Himmel wie auf den Straßen. Immer mehr Fahrzeuge fallen aus, immer mehr Flugzeuge bleiben am Boden, weil die Ersatzteile fehlen. Mit dem weiteren Verlauf des Krieges werde sich dieser Effekt beschleunigen, sagen Wirtschaftsexperten voraus. Putin raube Russland die Zukunft.

Doch von einem Kollaps scheint die russische Wirtschaft weit entfernt. Das liegt nicht nur daran, dass die Unternehmen vor dem 24. Februar letzten Jahres noch ausgiebig auf Einkaufstour gegangen waren und ihre Lager gefüllt hatten. Sie erschließen sich über Scheinfirmen von Russen im Westen und Transportwege aus China, Indien und der Türkei auch neue Bezugsquellen. Zudem ist Putin sowohl die Stabilisierung des Rubels gelungen, konnte er die Furcht der Bevölkerung vor steigenden Kosten vor allem bei den Energiepreisen ausräumen und befasst sich nun mit dem Umbau der Unternehmen zu einer umfassenden Kriegswirtschaft. Reserven werden gehoben, Waffenschmieden ausgebaut. Parallel wird die Kooperation mit anderen Ländern intensiviert, die im Westen als Schurkenstaaten bekannt sind, vor allem dem Iran und Nordkorea. Jedenfalls werden die Dementis beider Länder immer schmallippiger.

„Sanktionen sind kein Allheilmittel, aber sie sind effektiv und ihre Auswirkungen werden mit der Zeit immer deutlicher spürbar sein“, lautet die Zwischenbilanz der Grünen-Europa-Abgeordneten Viola von Cramon. Die Außen-, Industrie- und Ukraine-Expertin verweist aktuell darauf, dass sich die Wirkungen des Ölpreisdeckels schon binnen Tagen deutlich zeigten anhand der großen Differenz zwischen russischem Ural- und westlichem Brent-Öl. „Wir müssen Russland weiter systematisch wirtschaftlich isolieren und währenddessen unsere Abhängigkeit von russischen Mineral- und Kohlenstoffressourcen reduzieren“, lautet ihre Schlussfolgerung. Das seien auch klare Signale an China und andere Autokraten: „Es gibt keine unersetzlichen Handelspartner.“

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