Amnesty International Report 2022/23 Das Jahr der weltweiten Fluchtbewegungen und Massenproteste

Berlin · Im Jahr 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – ein Versprechen, dass das Recht und die Würde jedes einzelnen Menschen zählt. Doch 75 Jahre später scheint dieses Versprechen vielerorts in Vergessenheit geraten zu sein.

Nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini entflammten im Iran Proteste, die bis heute anhalten. Die Folge: etliche Menschenrechtsverletzungen.

Nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini entflammten im Iran Proteste, die bis heute anhalten. Die Folge: etliche Menschenrechtsverletzungen.

Foto: dpa/Uncredited

Angesichts von Krieg, Krisen und Unterdrückung flüchten und protestieren weltweit zahlreiche Bürger und Bürgerinnen. Im vergangenen Jahr waren 103 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie noch nie zuvor. Das geht aus dem jüngsten Report von Amnesty International hervor, der am Dienstag in Berlin veröffentlicht wurde und die Menschenrechtslage in 156 Staaten dokumentiert. Angesichts der Ergebnisse stellt die Menschenrechtsorganisation klare Forderungen auch an die deutsche Regierung.

„Protest und Flucht sind natürliche Überlebensreaktionen von Menschen, wenn ihre Rechte mit Füßen getreten werden“, sagte Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Es seien diese zwei Bewegungen, die im Bericht hervorstechen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine habe in Europa die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Doch auch in Afrika seien Millionen Menschen auf der Flucht, beispielsweise in Somalia. In Asien blieben Flüchtlinge aus Myanmar weiterhin schutzlos und entrechtet, während in Lateinamerika mehr als sieben Millionen Menschen Venezuela 2022 verlassen haben.

Neben Fluchtbewegungen und friedlichen Protesten sei das vergangene Jahr aber auch immer öfter von extremer Gewalt und Repressionen der Regierungen gegenüber diesen Menschen geprägt worden. Demnach hätten in mehr als der Hälfte der Länder (85) Sicherheitskräfte unrechtmäßige Gewalt gegen Protestierende eingesetzt. In 35 Ländern seien sie mit tödlichen Waffen vorgegangen, während in 79 Staaten Aktivisten und Aktivistinnen willkürlich festgenommen worden seien. In weiteren 29 Ländern schränkten Regierungen das Recht auf friedlichen Protest ein.

Die Beispiele staatlicher Repression seien vielfältig: Allein im Iran wurden Amnesty Schätzungen zufolge mehr als 22.000 Menschen willkürlich verhaftet und im Gefängnis misshandelt oder sogar hingerichtet. Mehr als 500 Menschen seien auf den Straßen ermordet worden, darunter über 70 Kinder. „Die Menschen kämpfen für nichts Geringeres als ihre Grundrechte“, berichtete Mariam Claren, Aktivistin und Tochter der deutschen Staatsbürgerin und Frauenrechtlerin Nahid Taghavi, die seit Oktober 2020 im Iran rechtswidrig inhaftiert ist. Der Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022, welcher die Proteste auslöste, war laut Claren der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. „Ein Fass, das vier Jahrzehnte lang stetig befüllt wurde mit Unterdrückung, Repression, Armut, Misswirtschaft und Korruption“, so die Aktivistin.

„Wer gegen Unterdrückung und Leid auf die Straße geht, braucht Unterstützung durch Öffentlichkeit und politischen Druck von Regierungen“, betonte Beeko. Das heißt auch: keine Lieferung von biometrischen Überwachungstechnologien. Diese würden in Ländern wie dem Iran oder Russland eingesetzt, um Protestierende zu identifizieren und zu verfolgen. Doch auch Schutz für Geflüchtete sei gefragt. Beeko lobte den Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine, die schnell und unbürokratisch aufgenommen worden seien. „Dies zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist.“

Doch genau diesen Willen vermisst der Generalsekretär im Hinblick auf die Menschen, die vor Gewalt in Syrien, Afghanistan oder dem Iran fliehen. Auch 2022 gehörten systematische Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen laut Bericht weiter zur Realität. „In Litauen, Lettland, Polen und auch den spanischen Exklaven wurden Schutzsuchende gewaltsam zurückgedrängt, anstatt ihr Asylrecht zu achten und zu schätzen“, kritisierte Beeko. Angesichts der zunehmenden Menschenrechtsverletzungen hält die Organisation eine Stärkung internationaler Institutionen für dringend erforderlich, damit diese Verbrechen nicht ungestraft bleiben.

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