Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew Hoffnung an einem Ort des Schreckens

Kiew · Nach Wochen von Streit und Stillstand ist nun auch ein Mitglied der Bundesregierung wieder in die Ukraine gereist. Außenministerin Annalena Baerbock zeigt in Kiew die Solidarität der Ampel-Regierung mit einem Land im Krieg gegen den russischen Aggressor

Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Butscha mit der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa auf dem Weg zu einem Massengrab

Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag in Butscha mit der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa auf dem Weg zu einem Massengrab

Foto: dpa/Efrem Lukatsky

Am Mittag ist die Nachrichtensperre endlich vorbei. Annalena Baerbock ist jetzt da, wo der Feind vorher nicht wissen sollte, dass sie dort ankommen würde: Butscha, Vorort von Kiew. Die deutsche Außenministerin hat sich schwer bewacht auf den Weg an jenen Ort gemacht, an dem russische Streitkräfte vor ihrem Abzug ein Massaker an rund 400 Zivilisten verübt haben sollen, deren Leichen teilweise mit auf den Rücken gefesselten Händen gefunden worden waren.

Baerbock ist an diesem Dienstag als erstes Mitglied der Bundesregierung in dem Kriegsgebiet angekommen, in Normalzeiten keine zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Aber seit dem 24. Februar sind die Zeiten alles andere als normal. Krieg bedeutet in jeder Hinsicht: Ausnahmezustand. Baerbocks Reise in die Ukraine ist deshalb aus Sicherheitsgründen ebenso gründlich vorbereitet wie geheim gehalten worden. Medienvertreter aus Deutschland hat sie – wie sonst bei Reisen der Außenministerin üblich – nicht mitgenommen. Schon am Vortag hatte EU-Ratspräsident Charles Michel beim Besuch der ukrainischen Schwarzmeer-Metropole Odessa erlebt, dass russischer Raketenbeschuss auch vor EU-Prominenz nicht stoppt.

Außenministerin Baerbock zu Gräueltaten: „Diese Opfer könnten auch wir sein“

Die deutsche Außenministerin geht durch die Straßen von Butscha, steht zwischen zerbombten Häuserhöhlen und verspricht Aufklärung für die Gräueltaten, die russische Soldaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen haben sollen. „Das sind wir den Opfern schuldig. Und diese Opfer, auch das spürt man hier so eindringlich, diese Opfer könnten auch wir sein.“ Die Menschen hier hätten gelebt, was viele Menschen leben: „Morgens aufstehen, einkaufen gehen.“ Und dann seien sie kaltblütig ermordet worden.

Die Außenministerin hört unter anderem Sätze wie: „Wir haben auch solche Leichen, die wir überhaupt nicht identifizieren können.“ Baerbock wird von der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa begleitet, die mit ihrem Team Beweise für die vermuteten Massaker sucht. Butscha sei ein Ort, an dem „die schlimmsten Verbrechen“ verübt worden seien. Dabei sei Butscha einmal ein Ort normalen Lebens gewesen. „Ein Vorort wie Potsdam von Berlin“, ist die Ministerin gedanklich an ihrem eigenen Lebensmittelpunkt.

Etwas später steht Baerbock in einer anderen Trümmerlandschaft. Im schwer beschädigten Vorort Irpin drückt die Grünen-Politikerin irgendwie auch ihre eigene Hilflosigkeit aus: „Sie sind ein sehr tapferes Land, und alles, was wir tun können ist, an Ihrer Seite zu stehen.“ Irpins Bürgermeister Olexander Markuschyn erzählt Baerbock von schweren Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte. Zivilisten seien erschossen, Frauen vergewaltigt, Wohnungen geplündert worden. Markuschyn: „Irpin hat einen hohen Preis für den Sieg bezahlt.“ Baerbock betritt ein völlig zerbombtes Mehrfamilienhaus in der Stadt. Sie sagt: „Außenministerin eines Landes in Frieden zu sein, ist einfach.“ Pause. „Aber eine ganz andere Sache ist es, Bürgermeister im Krieg zu sein. Mein ganz großer Respekt!“

Von Irpin geht es zurück in die Stadt, wo sich die deutsche Außenministerin mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba trifft. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz stellt Baerbock dann trotz aller Solidarität klar, dass es auch für die Ukraine keinen Rabatt für die angestrebte Aufnahme des Landes in die Europäische Union gebe werde. Sie sei zuversichtlich, dass die Ukraine einen „klaren Kandidatenstatus“ erhalten werde. Nur eines werde es eben nicht geben: eine Abkürzung für die Ukraine auf ihrem Weg in die EU. Aber noch eines soll die Welt wissen: Deutschland reduziere seine Abhängigkeit von russischer Energie auf null – „und zwar für immer“. Und: „Waffenlieferungen bedeuten, dass keine (russischen) Kriegsverbrechen mehr begangen werden können.“

Am Nachmittag dann ein sichtbares Zeichen an die Ukrainer, aber auch an die Welt, dass Deutschland erkennbar wieder einen festen Posten in der ukrainischen Hauptstadt hat. Baerbock eröffnet in Kiew die deutsche Botschaft wieder, die wegen des Kriegsausbruches geschlossen worden war. Einen Tag nach dem Start des russischen Angriffskrieges waren letzte Mitarbeiter der deutschen Botschaft nach Polen ausgereist und hatten dann teils von dort und teils von Berlin aus die diplomatischen Geschäfte weiterbetrieben. Vorsicht ist allerdings weiter Ratgeber in diesen Kriegswochen. Die deutsche Botschaft zeigt wieder Flagge, doch das Personal arbeitet in Kiew erst einmal in Minimalbesetzung, wie Baerbock beim gemeinsamen Auftritt mit ihrem Amtskollegen Kuleba dann noch klarstellt.

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