Niedersachsens Vize-Ministerpräsident Bernd Althusmann (CDU) im Interview „Wir brauchen bei Katastrophen einen effektiven Alarm-Mix aus Sirenen, Warn-Apps und SMS“

Interview | Berlin · Niedersachsen will sich am milliardenschweren Wiederaufbaufonds für die Flut-Opfer beteiligen, sagt der niedersächsische Vize-Ministerpräsident Bernd Althusmann. Allerdings hält der CDU-Politiker die finanzielle Belastbarkeit seines Landes und anderer Länder für begrenzt. Beim Katastrophenschutz setzt er auf einen Maßnahmen-Mix.

Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU, links) mit Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU).

Niedersachsens Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU, links) mit Finanzminister Reinhold Hilbers (CDU).

Foto: dpa/Moritz Frankenberg

Herr Althusmann, bei der Flutkatastrophe konnten die Menschen vielfach nicht via Warn-App alarmiert werden, weil Mobilfunknetze zusammenbrachen. Sollten wir verstärkt auf die gute alte Sirene setzen?

Althusmann Wir müssen unseren Zivilschutz und die Wege der Warnung der Bevölkerung vor drohenden Gefahren deutlich verstärken. Es braucht digitale Warnmeldungen ebenso wie Sirenen-Warnungen. Ein effektiver Alarm-Mix aus Sirenen, Lautsprecherdurchsagen, Warn-Apps und einer bundesweiten Cell-Broadcast-Warnung, die wie SMS funktioniert, kann Leben schützen oder gar retten. Eine Sirene hat den Vorteil, dass sie auch nachts und ohne Funknetz zu hören ist. Von daher – ja, wir sollten die Warnsirenen reaktivieren. Wir alle sollten aber die Signale auch kennen und wieder wissen, was im Falle eines Alarms zu tun ist.

Auch das nun diskutierte Cell-Broadcasting hängt von funktionierenden Netzen ab. Kann das eine praktikable Lösung für künftige Katastrophen sein?

Althusmann Da man derzeit über Warn-Apps nur rund 15 Prozent der Mobilfunknutzer erreicht, ist Cell-Broadcasting eine wichtige Ergänzung: Der Mobilfunkbetreiber gibt die Nachricht einmal heraus und erreicht so alle Endgeräte, die sich in der jeweiligen Funkzelle befinden, selbst wenn sie leise geschaltet sind. Für dieses System sind keine registrierten Telefonnummern nötig, die Empfänger bleiben komplett anonym. Dadurch bleibt auch der in Deutschland stets heiß diskutierte Datenschutz unberührt.

Hätte das verheerende Ausmaß der Fluten mit besserer und schnellerer Warnung begrenzt werden können?

Althusmann Das kann ich nur vermuten, aber Schuldzuweisungen helfen derzeit nicht wirklich weiter. Derartige Katastrophen sind mit allen Folgen schwer vorherzusehen. Wichtig ist vielmehr, dass wir parallel zu einem verbesserten Warnsystem auch unsere eigene Risikowahrnehmung schärfen. Wir müssen in der Bevölkerung für eine neue Gefahren-Erkennung werben und besser informieren. Experten sagen für die Zukunft verstärkt Wetter-Phänomene und Unwetter voraus. Das müssen wir ernst nehmen. Klare Handlungsanweisungen für den Notfall helfen dann nicht nur den Rettungskräften. Und das kann im Zweifel Leben retten.

Durch die Pandemie ebenso wie durch die Flutkatastrophe wurden erhebliche Defizite beim Bevölkerungs- und Katastrophenschutz offensichtlich. Reichen die bereits angestoßenen Reformen aus?

Althusmann Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz- und Katastrophenhilfe (BBK) steht womöglich zu Unrecht in der Kritik. Nach dem missglückten Warntag 2020 wurde der notwendige Reformprozess eingeleitet. Dazu gehören eine engere Kooperation der Akteure und bessere Einbindung der ehrenamtlichen Helfer. Mit Blick auf die akute Schadensbeseitigung in den Hochwassergebieten gibt es deutschlandweit viele Menschen, die helfen wollen. Die müssen jetzt vernünftig ‚abgeholt‘ und eingesetzt werden. Auch da kann das geplante neue Kompetenzzentrum hilfreiche Impulse geben.

Von vielen Seiten wird nun eine bessere Koordination zwischen Bund, Ländern und Kommunen bei Katastrophenlagen gefordert. Sind Sie für eine grundsätzliche Reform der föderalen Strukturen? Braucht es hier eine Grundgesetzänderung?

Althusmann Katastrophenschutz ist Ländersache. An der föderalen Struktur sollten wir festhalten. Aber das von der Innenministerkonferenz beschlossene Bund-Länder-Kompetenzzentrum sollte schnellstens eingerichtet werden, um bei länderübergreifenden Großschadenslagen eine bessere Koordinierung zu gewährleisten. Denkbar wäre auch die Einrichtung eines Sonderausschusses im Bundestag, der entsprechende Vorschläge erarbeitet. Ich bin sicher, dass die aus der Unwetterkatastrophe gewonnenen Erkenntnisse zu Verbesserungen von Strukturen und Abläufen führen. Das kann den unermesslichen Verlust von über 170 Menschenleben, vielen Vermissten und Verletzten nicht im Ansatz wieder aufwiegen. Es ist eine schlimme Katastrophe für unser Land, die wir nicht vergessen werden. Auch viele der rund 1200 Helfer allein aus Niedersachsen werden die Bilder, die sie gesehen haben, wohl niemals wieder loslassen. Auch den Helfern muss gegebenenfalls professionell und mit Notfallseelsorgern geholfen werden.

Wie steht Niedersachsen zum Plan eines milliardenschweren Aufbaufonds, den Bund und Länder je zur Hälfte finanzieren sollen?

Althusmann Niedersachsen hat beim Elbehochwasser 2013 selbst Solidarität von den anderen Bundesländern erfahren. Wir werden unseren Beitrag für einen Aufbaufonds leisten. Allerdings ist die Finanzlage aller 16 Länder durch die Corona-Pandemie angespannt. Das muss der Bund bei der Ausgestaltung dieses Aufbaufonds berücksichtigt. Ebenso müssen die Hilfen für Betroffene nun zügig ausbezahlt werden, unbürokratisch und ohne komplexe Antragsverfahren. Betrügereien werden meist aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt. Leider gibt es selbst in dieser Situation Menschen, die das Leid anderer zum eigenen Vorteil nutzen. Jetzt aber muss es zunächst um schnelle und pragmatische Hilfe gehen.

Soll es künftig eine Elementarschaden-Versicherung für Hausbesitzer geben?

Althusmann Eine Versicherungspflicht sehe ich skeptisch. Entsprechend hohe Versicherungsbeiträge könnten Einzelpersonen und Unternehmen in Hochwasser gefährdeten Gebieten schnell überfordern. Die Kanzlerin hat die Möglichkeit eines Umlagesystems ins Spiel gebracht. Das könnte ein gangbarer Weg sein. Die Rolle als Elementarschaden-Versicherer wird den Staat mittel- und langfristig finanziell überfordern. Die Herausforderung besteht also darin, eine nachhaltige Balance zwischen zumutbarer Eigenvorsorge und legitimer Inanspruchnahme der Solidargemeinschaft zu finden.

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