Tod des Parlamentspräsidenten „Ciao David“ - was der Verlust für Europa bedeutet

Brüssel · Für die EU-Abgeordneten kommt der Tod ihres Parlamentspräsidenten David Sassoli völlig unerwartet. Erst im Dezember hatte der 65-Jährige mit den EU-Staats- und Regierungschefs Zukunftspläne entworfen. Die Trauer um einen leidenschaftlichen Europäer ist groß.

Ein Abgeordneter trägt sich Dienstag in ein Kondolenzbuch zum Tode von Parlamentspräsident David Sassoli in Brüssel ein.

Ein Abgeordneter trägt sich Dienstag in ein Kondolenzbuch zum Tode von Parlamentspräsident David Sassoli in Brüssel ein.

Foto: AP/Olivier Matthys

Interessiert, bedauernd, aber nicht beunruhigt hatten die Europaabgeordneten am Montag die Nachricht zur Kenntnis genommen, dass ihr Parlamentspräsident David Sassoli seit dem Zweiten Weihnachtstag wegen einer Störung seines Immunsystems im Krankenhaus liege. Ja, im September war der 65-jährige Italiener schon einmal wegen Gesundheitsproblemen ausgefallen. Doch beim Dezember-Gipfel der Staats- und Regierungschefs war er wieder mit Zukunftskonzepten für die EU als leidenschaftlicher Europäer aufgetreten. Deshalb wirkte die Nachricht von seinem Tod am Dienstag Morgen wie ein Schock auf viele Parlamentarier und Regierungspolitiker.

„Heute ist ein trauriger Tag für Europa“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, Europa habe einen engagierten Parlamentspräsidenten, Italien einen klugen Politiker und Deutschland einen guten Freund verloren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte Sassoli als „charmantes und gewinnendes Gesicht der EU-Institutionen“. Und Außenministerin Annalena Baerbock fügte hinzu: „Wir werden seinen überzeugten Einsatz für den menschlichen Umgang mit Geflüchteten nicht vergessen.“

Damit wird er vor allem den Italienern markant in Erinnerung bleiben. Gerade in ihrem von Migrationsdruck besonders betroffenen Land setzte sich Sassoli immer wieder für das menschliche Gesicht Europas gegenüber Flüchtlingen ein, ohne den Ruf nach sicheren Grenzen zu vergessen. Der 1956 in Florenz geborene spätere Journalist war als Moderator der Abendnachrichten zu einer Bildschirmgröße geworden. 2009 wollte er nicht länger nur über Politik berichten, sondern sie selbst machen. Er zog für die Partido Democratico, die italienische SPD, ins Europaparlament ein, wurde 2014 einer der Vizepräsidenten, 2019 Parlamentspräsident.

Ursprünglich hatte er einer 2019 getroffenen Absprache ohne Murren folgen und einer Person der christlich-konservativen EVP Platz machen wollen. Doch nach wiederholten Wahlsiegen der Sozialdemokraten in Europa wollten sozialdemokratische Spitzenpolitiker eine zweite Amtszeit für Sassoli ausloten. Erfolge an der Basis und an der Spitze kein einziger Sozialdemokrat mehr? Kommissionschefin von der Leyen kommt von der CDU, Zentralbankchefin Christine Lagarde von den französischen Konservativen, EU-Ratspräsident Charles Michel von den belgischen Liberalen - da wäre auch nach Meinung von Sassoli selbst ein Sozialdemokrat an der Spitze des Parlamentes nur logisch gewesen. Doch Mitte Dezember wurde klar, dass der nötige Rückhalt für eine Abänderung der Vereinbarung fehlen würde. Sassoli erklärte den Verzicht auf eine erneute Kandidatur.

Durch seinen plötzlichen Tod bekommt seine letzte Rede vor den Staats- und Regierungschefs vom  16. Dezember so etwas wie ein Vermächtnis. „Die Union braucht ein europäisches Projekt der Hoffnung“, forderte er darin mehrfach. Er rief zu tatkräftigen Innovationen auf, um etwa „zu verhindern, dass die Giganten der digitalen Welt zu Gesetzgebern werden“. Die EU solle ihren Bürgern zudem einen besseren Schutz bieten und auf künftige Krisen besser vorbereitet sein. Europa müsse „neues Vertrauen in sein demokratisches Modell finden“, unterstrich Sassoli - und ging nach dem Urteil vieler Freunde dabei mit viel Herzenswärme und Sprachgewalt vorbildlich voran. „ Ciao David, Freund fürs Leben“, meinte Italiens Kulturminister Dario Franceschini.

Ihr breche das Herz, bekannte die maltesische EVP-Politikerin Roberta Metsola (42). Europa habe einen Anführer, sie selbst einen Freund und die Demokratie einen Champion verloren. Metsola ist nicht irgendeine Christdemokratin. Sie hat bei der EVP die Kampfabstimmungen um die Kandidatur für die Sassoli-Nachfolge gewonnen und ist nach Sassolis Tod als erste Vizepräsidentin bereits amtierende Parlamentschefin. Nächste Woche sollte sie in Straßburg gewählt werden. Wenn sie es denn wagt, angesichts der Omikron-Wand tatsächlich über 700 Abgeordnete in Präsenz an einen Ort zusammenzurufen.

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