Rede aus dem Kriegsgebiet Ein Parlament schreibt Geschichte für Europa

Brüssel · Auf den russischen Krieg gegen die Ukraine reagiert das Europäische Parlament mit einer Sondersitzung, in der die historische Dimension der Ereignisse und die beispiellosen Reaktionen Europas durch härteste Sanktionen gegen Russland und massivste Hilfe für die Ukraine zu spüren ist.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi beschwört die EU-Parlamentarier bei ihrer Sondersitzung in Brüssel.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi beschwört die EU-Parlamentarier bei ihrer Sondersitzung in Brüssel.

Foto: dpa/Virginia Mayo

Wird es wieder eine Debatte nur der kleinen Zeichen? Kurz bevor EU-Parlamentspräsidentin Roberta Matsola die Sondersitzung zur Ukraine an diesem Dienstagnachmittag eröffnet, geht die Maltesin noch einmal kurz rüber zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, reicht ihr eine blau-gelbe Sympathieschleife, die sich die Deutsche auch sogleich ans Revers heftet. Aber dann ist es vorbei mit den kleinen Zeichen. Dann beginnt eine herausragende Debatte, mit der das Parlament Geschichte schreibt: Während Russlands Präsident Wladimir Putin zum Großangriff auf Kiew ausholt, schaltet das Parlament der Friedensgemeinschaft ins Kriegsgebiet, bittet den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi ans virtuelle Rednerpult in Brüssel.

Er nutzt die Gelegenheit, zu einer so eindringlichen wie bewegenden Rede mitten ins parlamentarische Gewissen der Union. So wie er in der Vorwoche nachts den EU-Staats- und Regierungschefs durch eine Liveschalte in den Gipfel hinein klar machte, dass die soeben beschlossenen Sanktionen zu dünn waren. Ging es da vor allem darum, Russland wirksamer zu treffen, stellt Selenskyi nun die schnellstmögliche Mitgliedschaft seines Landes in der EU in den Mittelpunkt. „Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben“, stellt der Ukrainer im Militär-T-Shirt fest. Und ergänzt: „Wir kämpfen auch dafür, dass wir gleichberechtigte Mitglieder Europas werden.“ Die meisten Abgeordneten dürften in diesem Moment die beklemmenden Bilder vom Vortag vor Augen haben, als Selenskyi unter dem Schutz von Sandsäcken den Aufnahmeantrag an die EU unterzeichnete.

Jede Bewunderung jedes europäischen Politikers für die Heldentaten der Ukrainer für die Verteidigung der europäischen Werte kanalisiert Selenskyi in einen schlichten Appell: „Beweisen Sie, dass Sie wirklich Europäer sind. Beweisen Sie, dass Sie auf unserer Seite stehen.“ Die Ukraine hat sich entschieden: für die Freiheit eines EU-Mitgliedes. Und sie verlangt dieselbe Entscheidung der EU für die Ukraine. „Dann wird das Leben über den Tod siegen“, sagt Selenskyi. Kurz darauf spricht auch der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefanchuk zu den Kollegen in Brüssel. Vier Mal musste er an diesem Tag bereits wegen Bombenalarms in den Bunker. Er sieht Europa an einer Wegscheide. „Die Russen tun alles, um den europäischen Kampfgeist zu brechen. Das wird nicht geschehen“, sagt er, als die EU-Parlamentarier sich auch für ihn erhoben haben, um zu applaudieren. Darauf reckt der Parlamentspräsident entschlossen die geballte Faust.

Bilder, die irgendwie nicht zu Plenarsälen zu passen scheinen, die aber an diesem Tag die Konsequenzen politischen Handelns so deutlich machen wie nie zuvor. Stefanchuk hat vor Videbildern aus den Kriegsgebieten mit Toten, Verletzten, Zerstörungen gesprochen, Selenskyi gleich zu Beginn seiner Rede klar gemacht, was gerade geschieht. Er könne keinen „guten“ Tag wünschen, denn an diesem Tag würden viele Ukrainer sterben. Putin werde wohl sicherlich von „Sonderoperationen“ gegen „militärische Einrichtungen“ sprechen. Am Vortag habe er wieder 16 Kinder getötet. „Sind Kinder militärische Einrichtungen?“ fragt er anklagend.

EU-Ratspräsident Charles Michel bescheinigt, dass Selenskyi „uns in die Augen geschaut und unsere Herzen geöffnet“ habe. Er nennt das ukrainische Beitrittsgesuch „legitim“. Von einem „Geburtsakt“ eines geopolitischen Europas spricht daraufhin EU-Außenbeauftragter Josep Borrel. Und auch von der Leyen erkennt den „Augenblick der Wahrheit für Europa. „Nicht in Stich lassen“ werde die EU die Ukraine - und deshalb weitere 500 Millionen Euro für humanitäre Soforthilfe auf den Weg bringen. Zur Mitgliedschaft meint sie, dass da noch „ein langer Weg vor uns“ liege. Es gebe jedoch keine Zweifel, dass „ein Volk, das so mutig für unsere europäischen Werte steht, zu unserer europäischen Familie gehört.“ Am Ende der Debatte kündigt Vize-Kommissionspräsident Maros Sefcovic an: „Wir werden unser Haus Europa für die Ukraine öffnen.“

Da hat Manfred Weber namens der größten Fraktion, der christlich-konservativen EVP, bereits „ja“ zum ukrainischen Wunsch gesagt. Und für die Sozialisten und Demokraten hat deren Fraktionschefin Iratxe Garcia Perez klargestellt: „Wir werden nicht ruhen, bis Putin als Kriegsverbrecher vom Internationalen Strafgerichtshof verurteilt ist.“ Und für die Liberalen versichert Stéphane Séjourné in Richtung Ukraine: „Sie sind mit dem vergossenen Blut jetzt schon Mitglied unserer Wertegemeinschaft.“  Für die Grünen erklärt Philippe Lamberts den Krieg gegen die Ukraine zum „Weckruf für alle Demokratien in der Welt.“ Und er nutzt seine Redezeit, um allen Lügen der russischen Propaganda die Wirklichkeit entgegenzuhalten. Noch nie habe die Union „so unmittelbar und so brutal vor einer Herausforderung“ gestanden, aus der er nur eine Konsequenz für die EU und die Ukraine gebe: „Wir gehören zusammen.“

Viele sehen nationale Parallelen. Der deutsche Christdemokrat Michael Gahler wiederholt die Worte von Ernst Reuter zum eingeschlossenen Berlin von 1948, münzt sie auf Kiew von 2022: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt.“ Der kosovarische Sozialdemokrat fühlt sich an die serbischen Angriffe von 1998 erinnert, wünscht Putin das Schicksal des serbischen Kriegsverbrechers Milosevic und sagt voraus, dass auch der Kreml seinen „Maidan“ (die ukrainische Freiheitsbewegung) erleben werde. Andirus Kubilius aus Litauen wünscht dem Nachbarvolk ebenfalls die „Entputinisierung Ruisslands“.

Schließlich bringt es Ex-Parlamentspräsident Antonio Tajani auf einen einzigen Satz: „Wir sind alle Ukrainer.“

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