Unveröffentlichte BDI-Umfrage Hohe Energiepreise: Ein Viertel der Industriefirmen fürchtet um Existenz, ein Fünftel denkt an Abwanderung

Exklusiv | Berlin · Die Industrie schlägt Alarm: Fast 90 Prozent der deutschen Unternehmen stufen den Anstieg der Energiepreise in einer unveröffentlichen BDI-Umfrage als starkes Zukunftsproblem ein, ein Viertel hält ihn für existenzbedrohend. Jede fünfte Firma denkt über eine Standortverlagerung ins Ausland nach. BDI-Chef Russwurm ruft die Ampel-Regierung zeitnah und konkret zum Handeln auf.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm appelliert an die Bundesregierung, „Tabula Rasa“ bei staatlichen Abgaben auf Energie zu machen.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm appelliert an die Bundesregierung, „Tabula Rasa“ bei staatlichen Abgaben auf Energie zu machen.

Foto: dpa/Britta Pedersen

88 Prozent und damit die große Mehrheit der deutschen Industrieunternehmen sehen in den stark gestiegenen Energiepreisen eine starke oder sogar existenzbedrohende Herausforderung für die kommenden Monate. Das geht aus einer noch unveröffentlichten Umfrage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) bei mehr als 400 Mitgliedsunternehmen hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Demnach stuften 23 Prozent der Unternehmen oder knapp ein Viertel den Anstieg der Energiekosten bereits als existenzbedrohend ein, 65 Prozent sprachen von einer „starken Herausforderung“.

Die Umfrage wurde in der ersten Februar-Hälfte durchgeführt. Zwischenzeitlich sind die Preise für Gas, Öl und Strom angesichts der Zuspitzung der Russland-Ukraine-Krise weiter in die Höhe gestiegen – ein russischer Einmarsch in der Ukraine würde zu einer zusätzlichen Preisexplosion und Versorgungsengpässen vor allem beim Gas führen.

 BDI-Präsident Siegfried Russwurm warnt vor einer Situation wie in den 1970-er Jahren, als mehrere Ölpreisschocks die deutsche Wirtschaft in die Rezession geschickt hatten. „Die Energiekostensteigerungen sind so hoch wie seit der Ölkrise der 70er Jahre nicht mehr“, sagte Russwurm unserer Redaktion. „Die steigenden Strom- und Gaspreise drohen die Wirtschaft zu erdrücken“, sagte der BDI-Chef. „Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Der BDI befürchtet, dass der rasante Preisanstieg die Produktion in Deutschland immer stärker beeinträchtigt. Die Lage ist so ernst, dass selbst standorttreue mittelständische Unternehmen aus diversen Branchen über eine Verlagerung ins Ausland nachdenken müssen.“

87 Prozent der Unternehmen fordern in der BDI-Umfrage ein kurzfristiges Eingreifen der Bundesregierung: Staatliche Belastungen des Strompreises müssten schneller als geplant abgebaut werden. Rund 84 Prozent der Unternehmen finden, dass die Bundesregierung die Regelungen zur Erhöhung der nationalen CO2-Bepreisung überdenken und mit flankierenden Maßnahmen zur Entlastung von Unternehmen ergänzen sollte. Ein Auslaufen des Spitzenausgleichs der Energie- und Stromsteuer würde rund 56 Prozent der davon betroffenen Unternehmen vor ernste Schwierigkeiten stellen. 75 Prozent der Unternehmen fordern überdies, die Energiehändler stärker in die Pflicht zu nehmen. 53 Prozent wünschen sich, dass Händler dazu verpflichtet werden, den Großteil der verkauften Energie frühzeitiger als bisher zu beschaffen.

Rund zwei Drittel (68 Prozent) der Unternehmen können die gestiegenen Energiepreise kaum an Kunden oder Verbraucher weitergeben, heißt es in der Umfrage. Die Energiepreisentwicklung zwinge rund ein Drittel der Unternehmen, Investitionen in die Transformation zur Klimaneutralität aktuell zurückzustellen. Gut ein Fünftel der Unternehmen denkt zudem darüber nach, zeitnah Unternehmensanteile oder Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, 13 Prozent sind bereits dabei. Die gesamte Verlagerung des Unternehmens ins Ausland erwägen sechs Prozent, so die Umfrage.

„Rasches politisches Handeln ist gefordert“, sagte BDI-Präsident Russwurm. Die angekündigte vorgezogene Abschaffung der EEG-Umlage zum 1. Juli 2022 sei richtig. „Sie reicht aber nicht aus für eine nachhaltige Entlastung der Industrie. Die Bundesregierung muss bei nationalen Abgaben und Umlagen endlich Tabula Rasa machen, etwa bei der Stromsteuer und den Netzentgelten“, forderte Russwurm. „Schon jetzt ist die nationale CO2-Bepreisung eine existenzielle Bedrohung für viele kleine und mittelständische Unternehmen. Sie treibt die Strom- und Gaspreise in Schwindel erregende Höhen. Die Bundesregierung sollte die Industrie entlasten, um einen Exodus von Produktion und Arbeitsplätzen ins kostengünstigere Ausland zu verhindern“, sagte der BDI-Präsident.

 Die Bundesregierung bereitet derzeit ein Energie-Entlastungspaket vor. Einig sind Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) bereits über den Wegfall der EEG-Umlage zur Förderung des Ökostroms ab Juli, die bisher von den Stromverbrauchern und den Unternehmen getragen worden war. Laut Lindner entlastet dies die Wirtschaft um 6,6 Milliarden Euro. Im Gespräch sind weitere Maßnahmen wie die Anhebung der Pendlerpauschale. Die Haushaltsspielräume sind allerdings begrenzt, weil Lindner die Neuverschuldung im laufenden Jahr auf 100 Milliarden Euro begrenzen will. Vor allem die Union hatte als Opposition im Bundestag den Druck auf die Regierung massiv erhöht, ein umfassendes Entlastungspaket vorzulegen, das auch die Senkung der Stromsteuer und eine geringere Mehrwertsteuer von sieben Prozent auf Energie vorsieht.

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