Bilanz Grünen-Urgestein Jürgen Trittin im Interview - „Wir haben uns nicht verführen lassen“

Interview · Grünen-Urgestein Jürgen Trittin über die Bilanz des Bundesparteitags und die verbliebenen Chancen von Annalena Baerbock auf das Kanzleramt.

 Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (Archivbild).

Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (Archivbild).

Foto: dpa/Mohssen Assanimoghaddam

Herr Trittin, hat Robert Habeck die Kanzlerkandidatin auf dem Parteitag in den Schatten gestellt?

Trittin Nein, überhaupt nicht. Es war die Aufgabe von Robert, den Rahmen zu setzen für die programmatische Debatte. Damit hat er unsere Grundtonalität angestimmt: Dass Klimaschutz das Instrument ist, das die Freiheit sichert - gerade auch künftiger Generationen. Annalena hat diesen Rahmen mit unseren konkreten Zielen und Maßnahmen gefüllt und den Nachweis erbracht, dass wir zu Recht den Anspruch auf das Kanzleramt erheben.

Würden Sie nach ihrer Parteitagsrede am Samstag sagen: Baerbock kann Kanzlerin?

Trittin Auf jeden Fall. Und Annalena ist als Kanzlerkandidatin mit einer überwältigenden Mehrheit bestätigt worden. Hier hat sich gezeigt, dass sich die Partei von komischen Debatten und auch hausgemachten Fehlern nicht umwerfen lässt.

Diese 98,5 Prozent sind keine Bürde für Baerbock? Manch einen erinnern sie an die 100 Prozent des früheren SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, der danach abgestürzt war.

Trittin Nein. Die 98,5 Prozent sind Ausdruck dafür, dass diese Partei geschlossen hinter diesem Kurs steht. Wir haben uns nicht verführen lassen, aufgrund der Polemik etwa aus der SPD und der Linkspartei, auf unser sozialpolitisches Programm nach dem Wünsch-Dir-was – Prinzip noch obendrauf zu satteln. Wir sind klar geblieben: Wir stehen für einen Mindestlohn von zwölf Euro, einen um 50 Euro höheren Hartz-IV-Satz und ein Energiegeld für jeden Bürger im Gegenzug für den höheren CO2-Preis und dadurch steigende Benzinpreise. Aber wir haben auch die Wirtschaft vor Augen. Deswegen auch das Angebot von Annalena Baerbock an die Wirtschaft für einen Klimapakt, damit wir den Umstieg hin zur Klimaneutralität so hinkommen, dass dabei ein Wettbewerbsvorteil für den Industriestandort herauskommt.

Die Fehler Baerbocks, Stichwort Lebenslauf, haben die Umfragewerte der Grünen deutlich verschlechtert, auch ihre persönlichen Beliebtheitswerte. Lässt sich das in den nächsten Wochen ausbügeln?

Trittin Ich bin sicher, wir werden eine Auseinandersetzung haben über die Zukunft des Landes und nicht über Spiegelstriche in Lebensläufen. Aber wir können das gerne so fortsetzen. Dann gucken wir uns mal die verlorenen Klausuren von Herrn Laschet an.

Hartz IV-Satz rauf, Kindergrundsicherung, Rentenniveau bei 48 Prozent – Ihnen als alter Hase muss doch klar sein, dass allein die sozialpolitischen Pläne einen dreistelligen Milliardenbetrag kosten. Wie wollen Sie das finanzieren?

Trittin Indem man das ganze Programm sieht: Wir wollen jedes Jahr zusätzlich 50 Milliarden Euro für Investitionen in die Infrastruktur in die Hand nehmen. Dafür wollen wir die Schuldenbremse ändern, weil unterlassene Investitionen etwa in Bildung unzumutbare Belastungen für kommende Generationen bedeuten. Wir antworten auf die Nach-Corona-Zeit genauso wie Joe Biden in den USA: Wir wollen einen starken Impuls in die Wirtschaft geben.

Aber die Reform der Schuldenbremse begründen die Grünen ja nur mit den zusätzlichen Investitionen. Die höheren Sozialausgaben sind mit der reformierten Schuldenbremse nicht gedeckt.

Trittin Nein, aber wenn die Wirtschaft läuft, kommt mehr an Beiträgen und Steuern rein. Ich wundere mich manchmal über manche Fragen an uns: 2013 bin ich immer gefragt worden, warum wir alles so genau ausgerechnet haben. Jetzt fragt man uns: Warum habt ihr das nicht alles genauer ausgerechnet? Ich würde an der Stelle mal ganz ruhig bleiben und sagen: Ja, wir haben eine aufkommensneutrale Steuerreform vorgelegt, die die meisten Menschen entlastet, mit Kindern sogar noch mehr entlastet durch die Anhebung des Grundfreibetrags und durch das Energiegeld. Im Gegenzug soll der Spitzensteuersatz für Besserverdienende auf 48 Prozent steigen.

Müssen die Besserverdienenden also Angst bekommen, wenn die Grünen regieren?

Trittin Offensichtlich nicht, denn die allermeisten Menschen werden entlastet.

Und die Autofahrer und Pendler, die nur gehört haben, dass der Benzinpreis 2023 um 16 Cent gegenüber 2020 steigen soll?

Trittin Für die habe ich die unbequeme Nachricht, dass die bei allen Parteien steigen, bei der FDP sogar noch viel höher. Ja, es gibt interessierte Kräfte, die wollen, dass nur der eine Teil unserer Botschaft gehört wird. Der andere Teil ist: Wir wollen ein Pro-Kopf-Energiegeld von 75 Euro einführen und die EEG-Umlage für Strom senken. Das entlastet z.B. eine vierköpfige Familie mit einem durchschnittlichen Arbeitsweg von 16 Kilometern – und belastet sie nicht.

Bewaffnete Kampfdrohnen für die Bundeswehr waren auf dem Parteitag umstritten. Für welchen Antrag haben Sie gestimmt?

Trittin Ich habe für eine mittlere Position geworben. Ja, wir würden am liebsten alle Drohnen weltweit verbieten. Drohnen werden eingesetzt für völkerrechtswidrige und verfassungswidrige Liquidationen von Einzelpersonen. Drohnen sind aber mittlerweile so verbreitet, dass selbst die Houthis in Jemen darüber verfügen. Deswegen müssen wir uns sehr genau anschauen, in welche Einsätze wir Soldaten schicken und mit welchem dieser Einsätze es zur Erreichung des militärischen Ziels wichtig ist, über Drohnen zu verfügen. Ich glaube, dass wir die Entscheidung für diesen Weg klug getroffen haben.

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