Wirksamkeit der internationalen Justiz Müssen Kriegsverbrecher Strafen fürchten?

Brüssel · Es war ein langer Weg, Kriege zu ächten. Und ein noch längerer, Kriegsverbrechen nicht nur zu definieren, sondern sie auch noch zu ahnden. Aber die Welt ist nach den Kriegen in Jugoslawien und Syrien vorangekommen und sammelt Fakten nun auch in der Ukraine.

Eine Patientin nach dem Beschuss des Entbindungskrankenhauses von Mariupol am 9. März. Angriffe auf Kliniken stehen auf der Liste der Kriegsverbrechen.

Eine Patientin nach dem Beschuss des Entbindungskrankenhauses von Mariupol am 9. März. Angriffe auf Kliniken stehen auf der Liste der Kriegsverbrechen.

Foto: dpa/Mstyslav Chernov

Schon nach kurzer Zeit und der ersten Bombardierung von ukrainischen Krankenhäusern wurden Rufe nach einer Bestrafung russischer Kriegsverbrechen laut. Doch was sind Kriegsverbrechen? Und wer entscheidet darüber? Die zehn wichtigsten Fragen:

Woher kommen die Regeln?
In der Genfer Konvention von 1864 (ergänzt 1906, 1949 und 1977) und in der Haager Landkriegsordnung von 1899 (überarbeitet 1907) verständigten die Staaten sich darauf, in militärischen Konflikten auf bestimmte grausame und unnötig Zivilisten betreffende Handlungen zu verzichten. Daneben entstand das Völkergewohnheitsrecht, an das auch alle anderen Staaten gebunden sind, die den Haager und Genfer Vereinbarungen nicht beigetreten sind.

Sind Kriege überhaupt erlaubt?
Über Jahrhunderte gehörten Kriege zum Gewohnheitsrecht von Herrschern, ihre Interessen auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Seit dem Pariser Vertrag vom August 1928 sind Kriege jedoch geächtet. Das gilt insbesondere für Angriffskriege. Angegriffene Staaten haben jedoch das Recht, sich zu verteidigen (Verteidigungskriege), auch wenn ein solcher Angriff unmittelbar bevorsteht (Präventionskriege).

Welche Kriegsverbrechen gibt es?
Im Römischen Statut haben die Vereinten Nationen 1998 unter der Überschrift „Kriegsverbrechen“ 50 Handlungen aufgeführt. An erster Stelle steht die „vorsätzliche Tötung“, gefolgt von der „Folter“, der „vorsätzlichen Verursachung großer Leiden“, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigte „Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß“ und reicht in einem ersten Abschnitt bis zur „Geiselnahme“. Fortgeführt wird diese Auflistung durch vorsätzliche Angriffen auf die Zivilbevölkerung, auf zivile Objekte, auf humanitäre Hilfsmissionen, auf unverteidigte Städte, auf Kirchen, Schulen, Kultureinrichtungen, Denkmäler und Krankenhäuser. Auch die Erklärung, dass „kein Pardon gegeben“ wird stellt, ein Kriegsverbrechen dar.

Zählen auch bestimmte Waffen dazu?
Erwähnt sind unter anderem Gift, erstickende, giftige oder gleichartige Stoffe und Vorrichtungen sowie Geschosse, die sich im Körper des Menschen leicht ausdehnen. Generell als Kriegsverbrechen gilt auch die „Verwendung von Waffen, Geschossen, Stoffen und Methoden der Kriegführung, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen“.

Was ist mit Handlungen ohne direkte Waffengewalt?
Auch hier gibt es einen umfangreichen Katalog der Kriegsverbrechen. Er reicht von Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution, Zwangssterilisation bis hin zum „vorsätzlichen Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung durch das Vorenthalten der für sie lebensnotwendigen Gegenstände, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen“.

Seit wann werden Kriegsverbrechen bestraft?
Der im Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg vorgesehene Kriegsverbrecherprozess gegen Kaiser Wilhelm II. scheiterte, weil die Niederlande dessen Auslieferung verweigerten. Von den Alliierten verlangte Prozesse gegen 895 Beschuldigte übernahm ab 1920 das Reichsgericht in Leipzig. Allerdings verhandelte es nach dem Militärstrafgesetz, nicht nach dem Kriegsvölkerrecht. Somit waren die von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion zusammen mit Frankreich initiierten Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ab August 1945 die ersten.

Handelte es sich also um „Siegerjustiz“?
Das wird oft behauptet, weil es außer in Deutschland auch in Japan Angehörige der besiegten Nationen angeklagt wurden. Die Anklagen bezogen sich in großem Umfang auch auf nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Allerdings wurden auch vor deutschen Gerichten in den folgenden Jahren über 36.000 Strafverfahren eröffnet. Kriegsverbrechen fanden sich darunter zunächst kaum, wurden aber immer mehr. Zwischen 1960 und 2005 ging es in jedem vierten Verfahren um ein Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg.

Gibt es auch Urteile ohne Weltkriegsbezug?
Die Vereinten Nationen bildeten zwei Sondertribunale um die Gewaltexzesse im ehemaligen Jugoslawien (ab 1993) und in Ruanda (ab 1994) zu ahnden. Das zweite fällte 62 Urteile, das erste 84. Erstmals stand mit Serbiens Präsidenten Slobodan Milosevic ein Staatsoberhaupt wegen Kriegsverbrechen vor Gericht. Er verstarb vor der Verurteilung in Untersuchungshaft. Der berüchtigte bosnische Serbenführer General Ratko Mladic wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Inzwischen arbeitet ein ständiger Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag. Auch Deutschland verfolgt Kriegsverbrecher durch den Generalbundesanwalt und eine eigene Zentralstelle beim BKA und klagt Tatverdächtige vor deutschen Gerichten an.

Können Kriegsverbrechen in der Ukraine bestraft werden?
Russland hat den Strafgerichtshof in Den Haag nicht anerkannt. Das schränkt den Zugriff auf russische Tatverdächtige ein. Die Ukraine ist den Staaten, für die das Gericht zuständig ist, nicht beigetreten, hat es aber anerkannt und auch schon beantragt, Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine zu verfolgen. Die Ermittler sammeln bereits Informationen, um gegen einzelne Personen Anklagen vorbereiten zu können. Sie werden dabei von zahlreichen Behörden anderer Staaten unterstützt. Auf diese ist der Gerichtshof auch angewiesen, um Tatverdächtige festnehmen zu können.

Landet Putin selbst auch auf der Anklagebank?
Dazu müsste ihm persönlich die Verantwortung für einzelne Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können. Ohne die Übermittlung von russischen Staatsdokumenten dürfte das schwierig sein. Es kommen aber auch Zeugenaussagen aus seinem Umfeld in Betracht. Und dann müsste erst noch eine Festnahme und Überstellung des Staatspräsidenten erfolgen. Das Milosevic-Beispiel zeigt, dass das nicht unmöglich ist.

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