Bundesregierung im Krisenmodus Wie reagiert der Kanzler auf Putins Krieg?

Putin greift die Ukraine an, ein Krieg in Europa schockiert den Westen. Olaf Scholz, noch keine 100 Tage im Amt, steht vor seiner schwersten Prüfung. Gelingt es ihm wie einst Helmut Schmidt in dunklen Zeiten des RAF-Terrors, das Land entschlossen zu führen und dabei Europa zusammenzuhalten?

Russland greift Ukraine an: Wie reagiert die deutsche Bundesregierung?
Foto: dpa/John Macdougall

Als in der Nacht die Meldungen von ersten Angriffen russischer Truppen auf die Ukraine die Runde machen, eilt Olaf Scholz nach Berlin. Ein Wagen bringt ihn am frühen Morgen von seiner Wohnung in Potsdam ins Kanzleramt. Mit engen Vertrauten, darunter Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und der außenpolitische Berater Jens Plötner, bewertet Scholz die düstere Lage. Der schlimmste Fall, ein Krieg mitten in Europa, ist eingetreten. Was nun?

Scholz‘ Sprecher Steffen Hebestreit schreibt ein paar erste Sätze für die Medien auf. Um 10.00 Uh r tagt das Sicherheitskabinett, um die militärische Lage zu bewerten. Um 11.30 Uhr will Scholz dann im Kanzleramt vor die Kameras gehen, womöglich am Abend sich in einer TV-Rede an die deutsche Nation wenden. Später am Nachmittag wird eine länger geplante Videokonferenz mit den Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten jetzt zu einer Weltkrisenrunde. Deutschland hat in diesem Jahr den Vorsitz im mächtigen Industriestaatenclub. Russland kam 1998 dazu, flog aus der G8 aber hinaus, als Putin 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte. Eigentlich wollte Scholz in der G7-Präsidentschaft den Kampf gegen Corona und den Klimawandel ganz nach oben setzten - nun wird es ein Kampf um Frieden, ein Kampf um die Demokratie, gegen Autokraten wie Putin. Was passiert, sollte China die von Putin erzwungene Gunst der Stunde für einen Angriff auf Taiwan nutzen? Gerät die ganze Welt in Unordnung? Scholz wird nun versuchen, gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und US -Präsident Joe Biden den Westen zusammenzuhalten.

Scholz: „durch nichts zu rechtfertigen“

In den ersten schriftlich verteilten Sätzen verurteilt der Kanzler Russlands Angriff auf die Ukraine „auf das Schärfste“. Er sei „ein eklatanter Bruch des Völkerrechts“ und „durch nichts zu rechtfertigen ist“, erklärt Scholz. „Russland muss diese Militäraktion sofort einstellen“, fordert Scholz. Nur: Putin wird sich davon nicht beeindrucken lassen. Er will offensichtlich die Staatlichkeit der Ukraine zerstören, der er schon lange jegliche Souveränität abspricht. Moskau strebe die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“der Ukraine an, begründete Putin die Kriegserklärung. Da schlugen in den frühen Morgenstunden schon erste Raketen in der Ukraine ein. Mittlerweile rollen Panzer und Bodentruppen.  

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagt Außenministerin Annalena Baerbock gegen 10.00 Uhr in Berlin. Dieser Krieg solle allein die Hoffnung der Ukrainer auf Frieden und Demokratie zerstören. „Präsident Putin, diesen Traum werden Sie niemals zerstören können“, sagt Baerbock. Auch viele Russen würden sich für Putins Handeln schämen für das skrupellose Blutvergießen. Der Westen sei nicht hilflos, glaubt die grüne Chefdiplomatin. „Wir werden das volle Paket mit massivsten Sanktionen gegen Russland auf den Weg bringen.“ Deutschland stimme sich eng mit EU- und Nato-Partnern ab.

Wirkung von Sanktionen ist umstritten

Doch die am Dienstag vom Westen verhängten (und heute verschärften) Sanktionen - als Reaktion auf die russische Anerkennung der beiden von pro-russischen Separatisten gehaltenen Regionen Luhansk und Donzek im Osten der Ukraine  - gegen einen Teil von Putins Elite und russische Banken änderten nichts mehr am Schlachtplan des Kreml-Herrschers. Putin zeigt sich wild entschlossen, den geopolitischen Bedeutungsverlust der alten Sowjetunion nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit Waffengewalt zu revidieren. P utins Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede am Dienstag, als er die Ukraine als Marionetten-Regime des Westens verhöhnte, hatte Scholz dem Vernehmen nach tief verstört.

Scholz hatte seit dem Amtsantritt im Dezember versucht, sich in Putins Kopf hineinzuversetzen. Anders als für Merkel war Putin für ihn terra incognita. Er konsultierte unzählige Experten, telefonierte mit Merkel, verschlang Bücher, reiste vergangene Woche top präpariert in den Kreml. Dort traute sich Scholz sogar Sticheleien gegen Putin (“Wird nicht ewig im Amt sein“), berichtete dann auf der Münchener Sicherheitskonferenz aus seinem Vier-Stunden-Vier-Augen-Gespräch über den „Historiker“ Putin, der die Landka rte Europas zu seinen Gunsten neu vermessen wolle. Demzufolge war Putin für rationale Argumente, für das Aufzeigen der gewaltigen Sanktionskosten, nicht zugänglich. Und Scholz betonte in München: „Wir dürfen nicht naiv sein, das ist entscheidend.“ Der Kanzler hat recht behalten. Auch mit ihm scheint Putin gespielt zu haben.

Baerbock: „Der Westen hat bis zuletzt alles versucht“

Unterschätzten der Kanzler, die Bundesregierung, der gesamte Westen die Entschlossenheit des russischen Präsidenten, der seit Jahren die Ausdehnung der Nato in Osteuropa geißelte und in einem bemerkenswerten Aufsatz vor einem Jahr Russen, Ukrainer und Belarussen als historisch ein Volk beschrieb? Putin weiß, dass der Westen für die Ukraine militärisch nichts riskieren, keine eigenen Soldaten schicken wird. Umgekehrt war es richtig, dass Scholz mit den westlichen Partnern so lange wie möglich alle diplomatischen Mittel auslotete. Auch Baerbock betont am Donnerstag. Der Westen habe bis zuletzt alles versucht, um einen Krieg zu verhindern. Das sei richtig gewesen.

Nun sind die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Positiv zu sehen ist, dass Berlin, Paris, Brüssel und Washington Sanktionen gut vorbereitet haben. Die Folgen werden auch die westlichen Industrieländer tr effen - und Moskau erklärt, die Sanktionen seien eingepreist. Die Märkte stürzen ab. Die deutsche Abhängigkeit von Gas, Öl und Steinkohle aus Russland bleibt die Achillesferse.

Gasspeicher in Deutschland vor dem Winter von Russland kaum noch befüllt

Vizekanzler Robert Habeck zeigt sich im ARD-Morgenmagazin zerknirscht. Anzeichen wären da gewesen, etwa die von Russland vor dem Winter kaum noch befüllten Gasspeicher in Deutschland. In Regierungskreisen heißt es am Donnerstag, Nord Stream 2 sei tot - öffentlich windet sich Habeck noch. Kurz- bis mittelfristig sei das so, danach müsse man sehen. Bereits am Dienstag hatten Scholz und Habeck die von Gazprom beantragte Inbetriebnahme vorläufig auf Eis gelegt. Gestern zogen die USA mit Sanktionen gegen das von Gazprom angeführte Nord-Stream-Konsortium nach.

Der langjährige Vizekanzler, Außen- und Wirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel fürchtet, dass selbst die härtesten Sanktionen Putin nicht stoppen werden: „Wir ahnen bereits, dass Russlan d diese Sanktionen bereits in die Kosten seines Krieges eingepreist hat. Weder der Stopp des Erdgasprojekts North Stream II noch das Einfrieren von Vermögen der russischen Oligarchen oder die Entkoppelung Russlands vom europäischen und amerikanischen Finanzmarkt werden die russische Führung zur Umkehr bewegen“, sagte Gabriel unserer Redaktion. Sanktionen sind für Russland eine Art „Großmachtsteuer“, die Putin bereit sein zu zahlen, um geopolitisch ein Machtfaktor zu sein.

In Berlin tagen am Donnerstag die Krisenstäbe. Alles scheint möglich. Die östlichen Bündnispartner fordern bereits mehr Nato-Unterstützung an. Putin droht dem Westen, bei einer Einmischung in den Ukraine-Krieg mit militärischer Vergeltung. „Niemand sollte daran zweifeln, dass ein direkter Angriff auf Russland mit der Niederlage des potenziellen Aggressors und schrecklichen Folgen für den Angreifer enden würde“, sagte Putin. „Wer auch immer versuchen mag, uns zu ehindern, geschweige denn unser Land und unser Volk zu bedrohen, sollte wissen, dass die Antwort Russlands ohne Verzögerung folgen und Konsequenzen nach sich ziehen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. Wir sind auf jede Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Alle in diesem Zusammenhang notwendigen Entscheidungen werden getroffen. Ich hoffe, dass ich gehört werde.“ Deutschland hatte sich geweigert, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Die USA, Großbritannien und andere taten es. Doch die ukrainische Armee wird von Putins Truppen offensichtlich überrollt.

Steht eine weitere Flüchtlingskrise bevor?

Auch stehen Putin andere Waffen zur Verfügung - Öl und Gas. In der Bundesregierung werden seit Wochen mit Hochdruck Notfallpläne erarbeitet, falls Putin überhaupt kein Gas mehr schickt. So prüft Deutschland bereits verstärkt Flüssiggas-Importe aus Japan und den USA, dazu Kohleimporte. Für diesen Winter sollen die Füllstände in den Speichern reichen, außerdem wird es wärmer.

Scholz steht nun vor seiner härtesten Bewährungsprobe. Energiekrise, Flüchtlingskrise (falls die Menschen aus der Ukraine noch herauskommen), Wirtschaftskrise. Am 18. März wird der Merkel-Nachfolger erst 100 Tage im Amt sein. Putin fordert ihm nun alles ab. Helmut Schmidt, den Scholz als Vorbild verehrt, erlebte seine dunkelsten Stunden als Kanzler in den Zeiten des RAF-Terrors. Schmidt bewährte sich, mit klarer Führung, ließ sich von Terroristen nicht erpressen. Kann der Westen Putin noch zur Räson bringen? Die Bilder aus der Ukraine lassen das Gegenteil, das Schlimmste befürchten. "Für meine Generation ist Krieg in Europa undenkbar“, sagte Scholz am 15. Februar im Kreml. Jetzt ist die Zäsur da.

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