Sprachgenie und unbekannter Bruder

Morbach · Die Morbacher haben Guido Reitz, Bruder des Filmregisseurs Edgar Reitz, nur als zurückgezogenen und wortkargen Menschen kennengelernt. An der Uni in Marburg galt dieser als hochintelligenter Experte für Sprachenforschung. Edgar Reitz hat seinen neuen Film „Die andere Heimat“ seinem 2008 verstorbenen Bruder gewidmet.

 Seinen neuen Film hat Regisseur Edgar Reitz ( links) seinem 1998 verstorbenen Bruder Guido gewidmet.

Seinen neuen Film hat Regisseur Edgar Reitz ( links) seinem 1998 verstorbenen Bruder Guido gewidmet.

Foto: Privat

Edgar und Guido Reitz: zwei Brüder und beide hochbegabt. Während sich der 80 Jahre alte Edgar Reitz weltweit als Filmregisseur einen Namen gemacht hat, wurde bei seinem Bruder Guido erst nach dessen Tod 2008 bekannt, dass dieser ein bedeutender Sprachen- und Dialektforscher war. Bei der Sichtung des Nachlasses entdeckte Edgar Reitz mehrere Tausend linguistische Fachbücher, die sich sein Bruder seit 1972 angeschafft hatte.

In Fachkreisen bekannt

Darunter befand sich Literatur über chinesische und afrikanische Sprachen und über südamerikanische Indianersprachen, sagt Edgar Reitz. Aufgrund von Lernkassetten, die von seinem Bruder zu Übungszwecken besprochen worden sind, geht er davon aus, dass dieser 50 Sprachen beherrscht hat. "Wenn wir die Kassetten nicht gefunden hätten, hätte ich das nie geglaubt", sagt Edgar Reitz.

Bis zum Tod seines Bruders hatten weder der Regisseur und seine Familie noch ein Morbacher die geringste Ahnung von dessen Leidenschaft. Als er nach dem Tod seines Bruders eine Verwendung für dessen umfangreiche Fachliteratur suchte und deshalb mit der Universität Marburg Verbindung aufnahm, erwartete ihn die zweite große Überraschung: "Ihr Bruder ist ein international anerkannter Linguistikforscher, dessen Arbeiten in Fachkreisen bekannt sind," erfuhr er dort.

Guido Reitz hatte nicht nur Studenten bei Doktorarbeiten betreut. Er fand heraus, dass das Hunsrücker Platt eine Tonakzentsprache ist (siehe Extra). Professor Jürgen Erich Schmidt, Leiter des Forschungsinstituts für deutsche Sprache an der Uni Marburg, hatte ihn mehrfach in Morbach besucht, konnte den zurückgezogen lebenden und menschenscheuen Guido Reitz jedoch nie zu einer Veröffentlichung seiner Arbeiten bewegen.

Edgar Reitz: "Mein Bruder arbeitete am Nachweis seiner selbst aufgestellten Hypothese, dass allen Sprachen Gemeinsamkeiten zugrunde liegen. Diesen Nachweis suchte er in der Grammatik der Sprachen."

Dr. Alexander Werth vom Forschungsinstitut für deutsche Sprache hatte Guido Reitz nie persönlich kennengelernt. Doch für ihn ist der Morbacher "der klügste Mensch, mit dem ich je zu tun hatte und der nicht an einer Universität tätig ist." Anhand von Notizen in der hinterlassenen Literatur habe man festgestellt, dass Guido Reitz die Tausenden Fachbücher nicht nur gelesen, sondern auch verstanden habe, sagt Werth.

Der Morbacher hatte an einem Dialektwörterbuch gearbeitet. Dazu hatte er in dem von ihm geführten Uhren- und Schmuckgeschäft Kunden gefragt, wie bestimmte Wörter im Hunsrücker Platt ausgesprochen werden. Dies hatte er in phonetischer Schrift notiert, weil das Alphabet das nicht abbilden könne, sagt Werth. "Das ist schwer zu lernen. Guido Reitz hat sich das selbst beigebracht."

Die Tragik des Morbachers sei gewesen, dass er sich nie mit anderen Wissenschaftlern ausgetauscht habe. Nach seinem Tod seien Briefe an die Uni Marburg gefunden worden, die er nie abgeschickt hatte.

Parallelen zur Hauptfigur

Edgar Reitz hat die Fachliteratur seines Bruders der Uni Marburg übergeben. Zwei LKW-Ladungen seien nötig gewesen, um die Bücher dorthin zu schaffen, sagt er. Heute stehen in einem separaten Raum 2500 Bücher und einige Tonträger, insgesamt 2574 Titel. Als Guido-Reitz-Bibliothek stehen die Werke den Studenten und Wissenschaftlern zur Verfügung.

Edgar Reitz hat seinen neu angelaufenen Film "Die andere Heimat" seinem Bruder Guido gewidmet. Die Hauptfigur im Film befasst sich ebenfalls mit Indianersprachen aus Südamerika. Edgar Reitz über seinen Bruder Guido: "Wir haben ihn alle nicht gekannt."

In einer Tonakzentsprache haben Wörter je nach fallendem oder ansteigendem Tonfall verschiedene Bedeutungen. Guido Reitz hat herausgefunden, dass das Hunsrücker Platt eine solche Tonakzentsprache ist.

Ähnliches gibt es in Deutschland nur im Westerwald, im Rheinland und in der Eifel. Alexander Werth von der Uni Marburg nennt folgende Beispiele: Das Hunsrücker Wort "reif" bedeutet mit fallendem Tonfall "Reif", wie der weiße Reif nach Bodenfrost. Spricht man es gleichbleibend oder ansteigend aus, bedeutet es "Reibe". Das Wort "maat" bedeutet fallend ausgesprochen "Markt". Spricht man es nach oben aus, bedeutet es "Made". Tonakzente gibt es in Europa ansonsten noch in schwedischen, norwegischen und niederländischen Dialekten sowie im Serbokroatischen und im Baskischen. cstExtra: Der Bruder


Guido Reitz starb 2008 im Alter von 62 Jahren. Er studierte Jura, kehrte aber nach dem Tod seines Vaters und vor Abschluss des Studiums 1970 nach Morbach zurück. Er blieb bei seiner Mutter und erhielt das elterliche Uhren- und Schmuck-Geschäft aufrecht. Edgar Reitz beschreibt seinen Bruder Guido als zurückgezogenen, in sich gekehrten Menschen mit autistischen Zügen. Guido habe sehr einsam gelebt, kaum soziale Kontakte gehabt und sei es nicht gewohnt gewesen, mit Menschen zu reden. "Wenn ich ihn besucht habe, konnte ich zwei Stunden bei ihm sitzen, und er sagte nichts", erzählt der Regisseur. cstExtra: Tonakzentsprache


In einer Tonakzentsprache haben Wörter je nach fallendem oder ansteigendem Tonfall verschiedene Bedeutungen. Guido Reitz hat herausgefunden, dass das Hunsrücker Platt eine solche Tonakzentsprache ist.

Ähnliches gibt es in Deutschland nur im Westerwald, im Rheinland und in der Eifel. Alexander Werth von der Uni Marburg nennt folgende Beispiele: Das Hunsrücker Wort "reif" bedeutet mit fallendem Tonfall "Reif", wie der weiße Reif nach Bodenfrost. Spricht man es gleichbleibend oder ansteigend aus, bedeutet es "Reibe". Das Wort "maat" bedeutet fallend ausgesprochen "Markt". Spricht man es nach oben aus, bedeutet es "Made". Tonakzente gibt es in Europa ansonsten noch in schwedischen, norwegischen und niederländischen Dialekten sowie im Serbokroatischen und im Baskischen. cst

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort