Ein Mann mit langem Atem und großer Ausdauer

Trier · Manchmal prägen Menschen eine Institution so stark, dass man Person und Sache völlig miteinander identifiziert. So ähnlich ist das mit Hans Tilly und der Kinderfrühförderung in der Region Trier. Und doch muss es ohne ihn weitergehen: Nach mehr als drei Jahrzehnten wird der 63-Jährige heute in den Ruhestand verabschiedet.

 ... und so sieht er heute aus: Hans Tilly, der sich mehr als drei Jahrzehnte um die Frühförderung in Trier gekümmert hat. TV-Foto: Klaus Kimmling

... und so sieht er heute aus: Hans Tilly, der sich mehr als drei Jahrzehnte um die Frühförderung in Trier gekümmert hat. TV-Foto: Klaus Kimmling

Trier. Wer das sozialpädiatrische Zentrum in der ehemaligen Bertard-Kaserne in Trier-Euren nicht durch den Haupteingang betritt, sondern den unauffälligen Lift im Nebengebäude benutzt, der stößt auf ein kleines Hinweisschild. "Aufzugwärter: Hans Tilly" lautet die - wahrscheinlich einer deutschen Bürokratie-Vorschrift geschuldete - Auskunft, die es enthält. In diesen Tagen wirkt es wie ein letzter Hinweis darauf, dass der Mann, der das Haus verlässt, buchstäblich Mädchen für alles war.
Rückblende in das Jahr 1981. Mit dem üblichen Jahrzehnt Verspätung sind die Ideen der 68er Revolution auch in Trier angekommen. Im Dezernat des findigen, Innovationen stets aufgeschlossen gegenüberstehenden Sozialdezernenten Paul Kreutzer (CDU) sammelt sich eine Gruppe langhaariger Rauschebärte. Sie entwickelt eine progressive kommunale Sozialpolitik, die schon bald deutschlandweit als wegweisend eingestuft wird. Zum Team gehört übrigens ein zugereister Ruhrgebietler namens Klaus Jensen, der hier seinen Marsch durch die Institutionen startet.
In Kreutzers Truppe findet sich auch ein junger Absolvent der Uni Trier aus dem Rheinhessischen. Der bekommt von seinem Chef den Auftrag, ein Konzept zu entwickeln, wie man junge Menschen mit Behinderung, aber auch ihre Familien besser betreuen könnte - ein Feld, das seinerzeit weitgehend brach liegt.
Noch 33 Jahre später blitzt bei Hans Tilly ein Moment des Zorns auf, wenn er sich an die Situation der Betroffenen erinnert. Man habe, sagt er, Behinderte vor allem in ländlichen Regionen eher versteckt, ihre Existenz für peinlich gehalten - eine Traditionslinie von der Nazi- in die Nachkriegszeit. Das notwendige Bewusstsein für therapeutische Hilfe und Präventionsarbeit war nur sporadisch vorhanden.
Kreutzers Prinzip war die Kooperation, und so kamen mit der Lebenshilfe und der Caritas zwei eigentlich konkurrierende Einrichtungen gemeinsam als Träger ins Boot der neuen "Kinderfrühförderung". Im Oktober 1981 übernahm Hans Tilly die Geschäftsführung, damals mit sechs Mitarbeitern in einer kleinen Klitsche in der Trierer Südallee.
Heute beschäftigt die gemeinnützige GmbH 128 Mitarbeiter, verteilt auf die Zentrale in Trier und fünf Außenstellen in der Region. In den ersten Jahren waren es rund 100 Kinder, die insgesamt betreut wurden. Heute kommen so viele jeden Tag.
Eine ziemlich beispiellose Erfolgsgeschichte. Die auch damit zu tun hat, dass die frühzeitige Therapierung von Fehlentwicklungen und Behinderungen längst eine anerkannte sozialmedizinische Disziplin geworden ist. 1990 erhielt die Frühförderung die Ermächtigung, als sozialpädiatrisches Zentrum mit eigener medizinischer Leitung sein Angebot erheblich auszuweiten. 1996 zog man mit der Zentrale in die frühere Kaserne in Euren.
Immer wieder neue Meilensteine, immer wieder ein Schritt nach vorn. Heute ist die Frühförderung, wie sie im Volksmund nach wie vor heißt, ein unverzichtbarer Bestandteil, der die Versorgungslücke zwischen Kinderarzt und Krankenhaus mit einem breiten Angebot schließt.
Nicht nur deshalb fällt Tillys Bilanz positiv aus. Auch das, was er als Aufklärungsarbeit verstanden hat, trägt Früchte. Hemmschwellen im Umgang mit Krankheit und Behinderung sind gesunken, das "Sich-Kümmern" um die Betroffenen ist nicht mehr nur Mütter- und Frauensache.Hobby: Langstreckenlauf

 Hans Tilly – so sah er früher aus ... Foto: privat

Hans Tilly – so sah er früher aus ... Foto: privat


Aber auch persönlich hat Tilly von seiner Arbeit profitiert: "Die Begegnungen, Gespräche, Gesten mit behinderten Menschen und ihren Angehörigen haben mir einen anderen Blick auf die Welt vermittelt", sagt er, und es klingt so etwas wie Dankbarkeit mit.
Davon kann er im Ruhestand einiges zurückgeben. Im rheinland-pfälzischen Partnerland Ruanda will er sich um behinderte Kinder kümmern. Aber auch Familie und Freizeit sollen verstärkt zu ihrem Recht kommen - und nicht zuletzt Hans Tillys liebstes Hobby, der Langstreckenlauf.
Den Iron Man der Frühförderung hat er in 33 Jahren erfolgreich absoviert. Heute muss er noch den Verabschiedungs-Marathon über sich ergehen lassen. Ach ja: Und das Aufzugwärter-Schild abhängen.

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