Medizin mit schwer kalkulierbaren Risiken und Nebenwirkungen

Trier · Seit die Menschen immer älter werden und die Medizin ständig neue Möglichkeiten eröffnet, wächst parallel auch die Diskussion über die Frage eines menschenwürdigen Sterbens. Dabei treffen gesellschaftliche Dynamik und bisherige Tabu-Bereiche mit Wucht aufeinander.

Es war ein merkwürdiger Zufall, dass in der vergangenen Woche zwei Meldungen fast zeitgleich ins Land schwappten. Die eine lautete: Der Gesetzentwurf zum Thema Sterbehilfe ist mangels Einigkeit fürs Erste gekippt. Die andere lautete: Gut die Hälfte der Deutschen wäre laut einer repräsentativen Umfrage lieber tot als ein Pflegefall.
Die beiden Schlagzeilen illustrieren eine gesellschaftliche Entwicklung, deren weiterer Verlauf kaum absehbar ist. Noch vor wenigen Jahren war das Thema Sterbehilfe im Land des größten Euthanasie-Verbrechens der jüngeren Menschheitsgeschichte ein absolutes Tabu. Inzwischen ist die passive Form längst gesellschaftlich akzeptiert und juristisch anerkannt. Im Moment haben die Sterbehilfe-Gegner ihre Verteidigungslinie neu gezogen, es geht um die organisierte Beihilfe zum Suizid.
Aber auch da bröckelt längst die gesellschaftliche Basis. Nach neueren Umfragen will die Hälfte der Deutschen sogar kommerzielle Sterbehilfe zulassen, und auch Ärzte sollen Sterbewillige bis zum Schluss begleiten können - ohne bestraft zu werden. Freilich ist die Zahl der Gegner fast genauso groß.
Es handele sich um ein "ethisches Dilemma in einer Gesellschaft, die immer älter wird", vermutet der Trierer Strafrechts-Professor Hans-Heiner Kühne. Die Realität habe sich verändert, "aber manche Moralvorstellungen haben sich auf die neue Situation nicht eingestellt". Eine moderne Gesellschaft müsse ihren Mitgliedern "die Möglichkeit der Sterbehilfe einräumen können".
So würde Franz-Josef Tentrup es wahrscheinlich nicht ausdrücken. Der 73-Jährige hat im damaligen Herz-Jesu-Krankenhaus die Trierer Palliativstation gegründet, war ein Pionier der Hospizbewegung, ist heute noch Vorständler bei der Hospiz-Stiftung "Da-Sein".
Mit einer solchen Biografie wird man schwerlich ein Protagonist der Sterbehilfe. Aber auch Tentrup, ein nachdenklicher, ruhiger Mann, sagt: "Für viele Menschen ist es wichtig, grundsätzlich die Option der Sterbehilfe in der Hand zu halten, auch wenn die meisten sie nie praktizieren würden".
Er hat viele Menschen auf dem letzten Lebensweg begleitet, oft die Erfahrung gemacht, "dass, wenn es am Ende real wird, das Leben doch wieder an Wert gewinnt". Mancher, der von Suizid gesprochen habe, hing dann doch in erstaunlichem Maß am Leben. Zumal, wenn die Palliativmedizin es schaffte, ihn von den schlimmsten Schmerzen zu befreien. Alles tun, was die letzten Tage lebenswert macht, lautete die Devise des Mediziners. Aber auch: "Die Lebensverlängerung um jeden Preis ist passé".
In diesem juristischen und moralischen Minenfeld ist die Rolle des Arztes oft kompliziert. Tentrup erzählt von einer langjährigen Patientin, die mit furchtbaren Schmerzen und tödlicher Prognose die letzten Tage zu Hause verbringen sollte und ihn fragte, wie viel von den verschriebenen Schmerzmitteln sie denn nehmen müsse, um der Sache ein Ende zu machen. "Was antworten sie denn da?", fragt der Arzt.
Geht es nach seinen Standesorganisationen, ist die Frage flott beantwortet. "Beihilfe zum Suizid widerspricht ärztlicher Standesethik", befinden die Bewahrer des Status quo. Will heißen: Falls Tentrup seiner Patientin mit einer Information geholfen hat, wäre er nicht mehr würdig, Arzt zu sein. Mit diesem Dogmatismus hätten "immer mehr Ärzte Schwierigkeiten", sagt Tentrup, vor allem Palliativmediziner und Hausärzte, die oft eine intensive Verbindung zu den Menschen aufgebaut haben, die ihnen als Patienten in der letzten Lebensphase begegnen.
Es hat mal Versuche gegeben, das Standesrecht so zu formulieren, dass es dem Arzt die Chance gegeben hätte, stärker bezogen auf den Einzelfall zu agieren. "Die Beihilfe zum Suizid ist keine ärztliche Aufgabe", stand in einem Entwurf. Für das, was der Arzt als Mensch tut, gäbe es demnach einen gewissen Spielraum. "Leider", sagt Tentrup, "wurde das nie beschlossen".
Dass sich "das Standesrecht bewegen muss", glaubt auch Jura-Professor Kühne. Er geht aber in vielen Punkten noch deutlich darüber hinaus. Wenn es zum Freiheitsrecht der Bürger gehöre, auch über sein Leben verfügen zu können, "dann muss der Staat einen organisatorischen Rahmen ermöglichen". Es sei "unwürdig", einem Todkranken zuzumuten, "durch die Gegend zu telefonieren, um jemanden zu finden, der ihn beim Suizid berät und begleitet". Eine Differenzierung zwischen kommerzieller und nichtgewerblicher Hilfe hält Kühne nicht für sinnvoll: "Eine solche Leistung kostet Geld, das macht sie nicht anrüchig." Freilich wird auch der Jurist nachdenklich, wenn er die mögliche Entwicklung zu Ende denkt. Die Missbrauchsgefahr sei vorhanden, "das lässt sich nicht leugnen". Sein Vorschlag: Sterbehilfe zu erlauben, "aber nur bei strenger staatlicher und medizinischer Kontrolle".
Da trifft er sich wieder mit Franz-Josef Tentrup. Wenn es eine Art Anrecht auf Sterbehilfe gebe, sagt der Mediziner, dann werde im Umkehrschluss "der soziale Druck, davon auch Gebrauch zu machen, groß". Dann würden kranke Menschen in den Tod gedrängt, "weil sie das Gefühl haben, anderen nicht zur Last fallen zu wollen". Da gebe es "riesige Graubereiche". Sein Fazit: "Abstrakte Regeln" könnten das Problem nicht lösen, letztlich müsse der Arzt im Einzelfall "seinem Gewissen folgen".
Nur an einem Punkt wird er kategorisch: Eine aktive Tötung durch den Arzt, dafür wäre er nicht zu haben. "Auch dann nicht, wenn das Tötungsverlangen plausibel und begründet wäre". Helfen, zulassen, begleiten, beraten: ja. Aber töten? Nein, sagt Tentrup: "Das kann nicht die Aufgabe des Arztes sein".Meinung

Keiner hat die Moral gepachtet
Mit Denkverboten und Tabuisierung wird sich das Thema Sterbehilfe nicht regeln lassen. Die Vereinfacher auf beiden Seiten bieten keine Lösungen an. Wer aus seiner religiösen Überzeugung heraus der Meinung ist, sein Tod sei die Entscheidung einer höheren Macht, hat alles Recht der Welt, dass die Gesellschaft ihm als Schwerkranken das Weiterleben ermöglicht, auch mit höchstem Aufwand. Aber wer an diese höhere Macht nicht glaubt und als Schwerkranker nach reiflicher Abwägung aus dem Leben scheiden will, hat alles Recht der Welt, dass ihm die Gesellschaft einen menschenwürdigen Weg dafür eröffnet. Doch das darf sie nicht unbedacht tun. Wer ausschließlich auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht setzt, übersieht die Risiken und Nebenwirkungen eines lässigen Umgangs mit dem Thema Sterbehilfe. Angesichts der dramatischen demografischen Entwicklung, die auf uns zukommt, braucht es wirksame Dämme gegen eine Entwicklung, bei der das Recht zu sterben, irgendwann zu einer Art Pflicht pervertiert wird. Aus Rücksicht gegenüber wem auch immer. In dieser Diskussion hat niemand die Moral auf seiner Seite. Es geht um Kompromisse, um pragmatische Lösungen. Es geht darum, Menschen die Sicherheit zu geben, dass sie in der größten Not nicht alleine gelassen werden. Und zwar egal, für welchen Weg sie sich entscheiden. Dazu gehören vor allem die bestmöglichen Pflege- und Linderungsmaßnahmen. Aber eben auch die Möglichkeit, zu gehen. d.lintz@volksfreund.deExtra

Die rechtliche LageDie größten rechtlichen und ethischen Veränderungen hat es in den letzten Jahren und Jahrzehnten in dem Bereich gegeben, den man passive Sterbehilfe nennt, obwohl es sich keineswegs nur um passives Verhalten handeln muss. Entscheidender Punkt: Ein Patient steuert ohnehin auf den Tod zu, aus "natürlichen" Gründen, also etwa im Endstadium einer schweren Krankheit.

Der Tod wird verzögert durch medizinische Maßnahmen, zum Beispiel durch die Gabe bestimmter Medikamente oder durch künstliche Ernährung. Früher galt: Es gibt eine Art Verpflichtung, das Leben zu erhalten, auch gegen den Willen des Betroffenen. Heute gilt: Wenn die Situation objektiv gravierend und der Wille des Patienten eindeutig sind, etwa durch eine Patientenverfügung, dann muss das berücksichtigt werden. Der behandelnde Arzt darf dann, wenn er von der Richtigkeit überzeugt ist, lebenserhaltende Maßnahmen unterlassen oder bereits laufende Maßnahmen einstellen - was oft durchaus aktives Tun voraussetzt. Im Grunde lässt er aber damit primär der Natur ihren Lauf. Es werden nur die Hindernisse zum Sterben aus dem Weg genommen. Schon anders ist die Lage, wenn es um einen begleiteten Suizid geht.

Der Patient selbst greift dabei aktiv in die Abläufe ein und tötet sich. Aber dabei braucht er möglicherweise Rat und Unterstützung. Das beginnt bei der Frage nach der geeigneten, aus Sicht des Betroffenen möglichst menschenwürdigen Form des Suizids, und das geht bis hin zu einer Begleitung, einem Die-Hand-halten bis zum Schluss. Da in Deutschland die Selbsttötung keine Straftat ist (was zwar absurd klingt, aber durchaus eine Bedeutung hat, zum Beispiel im Fall eines misslungenen Versuchs), ist auch die Beihilfe nicht strafbar - solange ein Dritter, meist ein Arzt oder Angehöriger, nicht aktiv eingreift. Hier gibt es aber einen Unterschied zwischen dem Strafrecht und dem ärztlichen Standesrecht.

Bei letzterem gilt bisher: Die Beihilfe zum Suizid widerspricht der ärztlichen Standesethik und kann zum Entzug der Approbation führen. Vor allem Ärzte aus der Palliativmedizin und Hausärzte mit enger Verbindung zu ihren Patienten sind oft gegen diese rigorose Handhabung, die sie in ihrer Existenz bedroht, wenn sie einem Patienten beistehen. Noch einmal völlig anders ist die Situation bei der aktiven Sterbehilfe, womit in der Regel eine "Tötung auf Verlangen" gemeint ist. Letztere ist in Deutschland grundsätzlich strafbar, sowohl bei Angehörigen wie bei medizinischem Personal. Die Frage stellt sich vor allem dann, wenn ein Patient zwar sterben will, aber nicht mehr in der Lage ist, die dazu notwendigen Schritte selbst einzuleiten - etwa durch eine Lähmung. Viele Ärzte und Experten, die eine passive Sterbehilfe und einen begleiteten Suizid für vertretbar halten, lehnen die aktive Tötung eines Menschen, selbst wenn sie dessen Willen entspricht, ab. Es gibt zurzeit in Deutschland keinen ernsthaften Vorstoß, die aktive Sterbehilfe zu legalisieren.

Die aktuelle Debatte dreht sich in erster Linie um Organisationen oder Vereinigungen, die Sterbewilligen Hilfe anbieten. Die bekanntesten ihrer Art sind Dignitas und Exit, die von der Schweiz aus arbeiten. Nach eigener Aussage beschränken sie sich auf die Begleitung und Beratung beim Suizid - und wären damit auch in Deutschland nicht im Bereich der Strafbarkeit. Allerdings sind die Grenzen zwischen begleiteter Selbsttötung und Fremdtötung auf Verlangen in der Praxis oft kaum zu ziehen. Die Bundesregierung will die Tätigkeit von Hilfs-Organisationen dann verbieten, wenn sie "gewerbsmäßig" arbeiten. Viele Vertreter aus Kirchen oder konservativen politischen Parteien, für die die Sterbehilfe ein absolutes Tabu ist, wollen solche Vereinigungen generell verhindern, auch wenn sie nicht kommerziell agieren. Weil sich beide Seiten nicht einigen konnten, liegt das Gesetz nun komplett auf Eis. DiL

Pentobarbital - ein Mittel zur SterbehilfeIm Jahr 1915 hatte die Firma Bayer das Patent Pentobarbital angemeldet. Es wurde viele Jahre in der Humanmedizin als Schlafmittel verwendet, wobei sowohl die Form der freien Säure (Nembutal in den USA), als auch das Natrium-Salz (Medinox mono, Nembutal) zum Einsatz kamen.

Durch vermehrten Missbrauch sowie das Aufkommen neuer Präparate wurde es jedoch als Schlafmittel durch modernere Mittel abgelöst. Durch die neueren Diskussionen um die Thematik der Sterbehilfe ist Pentobarbital wieder stärker im Gespräch, da es von einigen Organisationen als Sterbehilfepräparat verwendet wird. Dazu zählen zum Beispiel Exit oder Dignitas. Der Tod wird durch Einschlafen und Lähmung des Atemzentrums herbeigeführt.
Die Lage in LuxemburgDas Prozedere ist genau festgelegt. Ein Mensch, der todkrank ist und unter erheblichen Schmerzen leidet, kann die aktive Sterbehilfe bei einem Arzt seines Vertrauens beantragen. Der Arzt, in der Regel ein langjähriger Hausarzt, muss den Patienten gründlich beraten, sich von der Ernsthaftigkeit des Anliegens überzeugen und einen weiteren Kollegen heranziehen. Ihre Tätigkeit wird für eine staatlich eingesetzte Kommission dokumentiert, die im Zweifelsfall weitere Informationen einfordern kann. Sind sich alle Beteiligten einig, wird dem Patienten zunächst ein Mittel verabreicht, das ihn in tiefe Bewusstlosigkeit versetzt, danach ein Präparat, das einen Herzstillstand verursacht. Das soll zu einem "sanften Tod" innerhalb weniger Minuten führen. "Alles basiert auf Freiwilligkeit", betont Jean Huss, früherer Parlamentarier und heutiger Präsident der "Gesellschaft für Sterben in Würde". Kein Arzt sei verpflichtet, gegen seinen Willen an der Sterbehilfe mitzuwirken. Sei er nicht bereit, müsse der Patient einen anderen Arzt finden. Um Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können, muss man kein Luxemburger sein. Auch einem deutschen Staatsbürger stünde die Möglichkeit offen. "Allerdings zu den gleichen Bedingungen wie jedem Luxemburger auch", erklärt Huss. Will heißen: Man muss eine enge Verbindung zu einem Luxemburger Arzt haben. Mal eben zum Sterben ins Großherzogtum, wie es manche Kritiker lautstark prophezeiten, das geht nicht. Und Sterbehilfe-Organisationen wie Dignitas? "Gibt es hier nicht, weil wir sie nicht brauchen", sagt Jean Huss. Schon die Zahlen des ersten Kommissionsberichts für die Jahre 2009 und 2010 nahmen vielen Skeptikern den Wind aus den Segeln. Danach gab es in zwei Jahren fünf Fälle, davon drei Frauen und zwei Männer, alle älter und alle schwer krebskrank. 681 Luxemburger deponierten in diesem Zeitraum "Sterbeverfügungen", in denen sie vorsorglich Sterbehilfe für den Fall bestimmter Krankheitsverläufe beantragten. Der Bericht für die Jahre 2011 und 2012 erscheint im Frühsommer dieses Jahres. DiL

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