Pillen sind keine Erziehungshelfer

Trier · Die Krankenkasse Barmer GEK warnt vor einer "Generation ADHS". Den von ihr vorgelegten Zahlen zufolge klettert die Zahl der Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen deutlich. In der Region wird die Diagnose überdurchschnittlich oft gestellt.

Trier. Von 1000 Kindern, die in Trier etwa wegen Konzentrationsproblemen zum Arzt gehen, wird bei etwas mehr als 56 die für viele Eltern schockierende Diagnose ADHS gestellt: Sie haben Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen.
Damit liegt die Zahl der diagnostizierten ADHS-Fälle bei Kindern und Jugendlichen in Trier über dem bundesweiten Durchschnitt. Genau wie auch in den vier Landkreisen (siehe Tabelle).
Den gestern von der Krankenkasse Barmer GEK vorgelegten Zahlen zufolge waren 2011 bundesweit von 1000 Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre rund 41 von einer ADHS-Diagnose betroffen. Insgesamt sei die Zahl der entsprechenden Diagnosen zwischen 2006 und 2011 von 2,9 auf 4,1 Prozent angestiegen, heißt es in dem Arztreport. Bei insgesamt 750 000 Personen sei die Krankheit festgestellt worden.
Die Kasse spricht von einer "Generation ADHS". "Wir müssen aufpassen, dass die ADHS-Diagnostik nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren", warnt Barmer-GEK-Landesgeschäftsführer Friedhelm Ochs. Besonders bei Kindern, die vor dem Wechsel zu weiterführenden Schulen stünden, werde überdurchschnittlich oft die Diagnose gestellt, sagt Ochs. Vor allem bei Jungen: Jeder Fünfte leide an ADHS. Bei den Mädchen sind es gerade mal knapp acht Prozent.
Was Ochs besonders stört, ist die Häufigkeit, mit der Ärzte betroffenen Kindern entsprechende Medikamente, vor allem das als Ritalin bekannte Methylphenidat, verschreiben. Es ist ein Arzneimittel mit stimulierender Wirkung. Ritalin dürfe nicht ohne weiteres das Mittel der ersten Wahl sein, warnt Ochs.
Auch bei der Zahl der Ritalin-Verordnungen liegt die Region über dem Bundesdurchschnitt. So wurde das Medikament etwa in Trier 1,58 Mal häufiger verschrieben als andernorts. Von den rund 56 Kindern und Jugendlichen, bei denen ADHS diagnostiziert worden ist, erhielten 31 Ritalin. "Pillen gegen Erziehungsprobleme sind der falsche Weg", kritisiert der Landeschef der Krankenkasse. Er spielt damit auf die in dem Arztreport festgestellten elternabhängigen Faktoren an. So fanden die Wissenschaftler im Auftrag der Barmer GEK heraus, dass Kinder von arbeitslosen Eltern häufiger von ADHS-Diagnosen betroffen sind als Kinder von Gutverdienern. Auch gibt es laut Ochs Hinweise darauf, dass Kinder jüngerer Eltern zwischen 20 und 24 Jahren öfter betroffen sind als die von Eltern im Alter zwischen 30 und 35 Jahren.
Regionale Unterschiede


Auffallend in dem Arztreport sind die regionalen Unterschiede. So liegen laut Barmer GEK die Diagnoseraten in Rheinland-Pfalz um 21 Prozent über dem Bundesschnitt, bei den Ritalin-Verordnungen liegt das Land sogar um 33 Prozent darüber. Eine Erklärung hat man bei der Krankenkasse dafür nicht.
Auch die Kinderärzte bestätigen, dass ADHS häufiger diagnostiziert wird. Das liege zum einen daran, dass die Diagnosemöglichkeiten in den vergangenen Jahren besser geworden seien, sagt Christian Neumann, Kinderarzt in Zweibrücken und Sprecher des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Zum anderen gibt er dem zunehmenden Leistungsdruck in der Schule die Schuld an der Diagnosehäufung. Die Kinder müssten heute angepasster sein, dürften nicht durch Unruhe und Unkonzentriertheit auffallen, sagt Neumann unserer Zeitung. Er schließt aber aus, dass die Kinder- und Jugendärzte leichtfertig Ritalin verschreiben. Dies geschehe nur nach ausgiebiger Untersuchung zumeist zusammen mit einem Kinder- und Jugendpsychiater und nur, wenn keine andere Therapiemöglichkeit mehr helfe.
Nicht immer sei das Medikament tatsächlich angebracht, sagt Neumann. Einen Grund für den Anstieg der Verordnungen sieht er auch darin, dass viele Eltern mit Kindern, bei denen der Verdacht auf ADHS besteht, statt zu einem Kinderarzt zum Hausarzt gehen. Dort fehle oft das Wissen über alternative Therapiemöglichkeiten, oder die Ärzte stünden unter hohem Druck durch Eltern und Schule und verordneten daher vielleicht schneller Ritalin, vermutet der Kinderarzt.
Nach ebenfalls gestern vorgelegten Zahlen der Techniker Krankenkasse belaufen sich die Ausgaben pro ADHS-Patient pro Jahr auf 3888 Euro, das seien 2902 Euro mehr als für ein Kind ohne die Diagnose.

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