Silvesterpredigt des Trierer Bischofs Stephan Ackermann

Trier · Die Silvesterpredigt des Trierer Bischofs Stephan Ackermann zum Jahresschluss im Trierer Dom finden Sie hier:

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

"Was war das bedeutendste Ereignis für die katholische Kirche in Deutschland in 2012?", so fragt ein Redakteur unserer Katholischen Nachrichtenagentur in einem der Jahresrückblicke, die in den vergangenen Tagen veröffentlicht wurden. Die Antwort, die er selbst gibt, lautet: Es war ein Thema, "das auf den ersten Blick mit Kirche wenig zu tun hat: das Beschneidungsurteil" (C. Arens in KNA-Basisdienst vom 28.12.2012). Ich glaube, der Redakteur hat mit seiner pointierten Antwort Recht. Denn er sieht in dem Streit um die Beschneidung von Jungen eine "Stellvertreterdebatte", in der es um viel mehr geht: Nämlich um den Ort von Religion in unserer Gesellschaft.

Jede Woche ein neues Glaubens-Thema...

Die Diskussion um die Beschneidung ist das markanteste Beispiel in einer ganzen Serie von Fragen, die aktuell um das Verhältnis von Religion und Gesellschaft kreisen. Die Journalistin Evelyn Finger hat es so formuliert: "Erstaunlich! Da stehen viele Kirche leer, und viele Kirchenmitglieder glauben auch nicht mehr so recht an Gott. Doch in der Öffentlichkeit ist Gott das große Thema. Warum regt uns jede Woche eine neue Glaubensfrage auf: Ist das Ritual der Beschneidung eine Körperverletzung? Müssen wir die religiösen Gefühle unserer sensibleren Mitbürger gegen Karikaturen schützen? Brauchen wir vielleicht ein Gesetz gegen Blasphemie? Wer darf Kopftuch tragen in der Schule? Wohin hängen wir das Kruzifix? Und ist es nun okay, dass die Kirchensteuer vom Staat eingezogen wird ...?" (DIE ZEIT vom 29.11.2012, 66).

Die Frage nach Gott und dem Glauben ist heute in der Öffentlichkeit wesentlich präsenter, als es die Religionskritiker noch vor einigen Jahrzehnten vorausgesehen haben. Anders als es so manche Prognose prophezeit hatte, haben die Aufklärung sowie der Fortschritt von Wissenschaft und Technik Religion nicht in eine Nische abgedrängt oder gar entbehrlich gemacht.

Weil dem so ist und weil uns das Ringen um die Frage, welche Bedeutung der Religion und den Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft zukommen soll, weiterhin erhalten bleiben wird, möchte ich mit Ihnen, liebe Schwestern und Brüder, auf der Schwelle in das Neue Jahr über dieses Thema ein wenig nachdenken und danach fragen, welche Aufträge es für uns bereit hält.

Religion heute: schwächer und stärker zugleich
Doch bleiben wir zunächst noch bei dem Blick auf die Situation, so wie sie sich am Ende dieses Jahres darstellt: Die Statistiken sagen uns: 72 Prozent der Deutschen gehören einer Religionsgemeinschaft an, 59 Prozent sind Christen. Zahlenmäßig gesehen ist das wahrhaftig keine Minderheit. Religion und Religionszugehörigkeit spielen also nicht die Rolle einer Restexistenz, wie oft behauptet wird. Eher stimmt die Beobachtung, dass Religion in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit schwächer und stärker zugleich wird (E. Finger). Gerade aus dieser widersprüchlichen Situation heraus werden Religion und Glaube immer wieder öffentlich zum Thema, das auch Streit produziert. Wie kommt das?

Im Blick auf die christliche Religion braucht es keine langen Erklärungen, um zu verstehen, was - trotz aller Statistiken - mit Schwächung gemeint ist. Wir erleben es tagtäglich: Die Kirchenbindung nimmt zusehends ab, der Glaube an Jesus Christus wird in vielen Familien längst nicht mehr wie selbstverständlich weitergegeben, selbst wenn die Eltern getauft sind und einer der großen Kirchen angehören.

Stärkung: Kirche bleibt gefragt

Doch worin besteht bei dieser Schwächung die Stärkung? Zunächst ist festzustellen, dass säkulare Formen von "Gläubigkeit", die im letzten Jahrhundert stark waren, "Risse" bekommen haben: Unsere Fortschritts-"Gläubigkeit", unsere Technik-, unsere System-"Gläubigkeit" haben abgenommen. Eine Katastrophe wie die von Fukushima trägt das Ihrige dazu bei, ebenso die spürbaren Folgen des Klimawandels und die Entfesselungen auf den Finanzmärkten. Bei vielen Menschen, gerade auch bei politisch Verantwortlichen herrscht Nachdenklichkeit. Wie ein Refrain ertönt der Ruf nach einer Neubesinnung auf Werte, auf das, was wirklich zählt. Da die Bindung an die Gemeinschaften, in denen traditionellerweise Werte vermittelt werden (dazu gehören eben auch die Kirchen), schwindet, ist das kein Wunder. Ich selbst erlebe immer wieder mit einem gewissen Erstaunen, dass die katholische Kirche einerseits mit den Lehren, die sie vertritt, permanent in der Kritik steht, und dass ich andererseits als amtlicher Repräsentant dieser Kirche durchaus - auch von nichtkirchlichen Gruppierungen - als Gesprächspartner gefragt bin, wenn es um Fragen von ethischer Orientierung und Werten geht.

Aggressive "heiße" Religiosität: Zerrformen

Die Präsenz von Religion im öffentlichen Bewusstsein ist in jüngster Zeit auch deshalb stärker geworden, weil wir in einer pluralistischen Gesellschaft Formen von "heißer" Religiosität erleben, die sich selbstbewusst, mitunter aggressiv Gehör verschaffen. Leider ist die Grenze zu Fundamentalismus und Fanatismus dabei schnell überschritten. Hier denke ich nicht nur an fanatische Gruppierungen im Islam. Offensichtlich haben sich alle drei großen Offenbarungsreligionen derzeit mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen: Die israelische Gesellschaft steht in Belastungsproben durch die ultraorthodoxen Juden, die mit Gewalt ihre extremen Moralvorstellungen vor allem Frauen gegenüber durchsetzen wollen. Für den Bereich der katholischen Kirche nenne ich neben den Auseinandersetzungen um die traditionalistische Pius-Bruderschaft nur das Beispiel der Internetseite "kreuz.net", die in den letzten Jahren nicht nur viele Bischöfe und kirchliche Gruppierungen mit Häme und Zynismus übergoss, sondern auch antisemitische Parolen und menschenverachtende Äußerungen gegenüber Homosexuellen veröffentlichte. Leider sind es oft die Zerrformen, die Religion wieder stärker in die öffentliche Wahrnehmung bringen und diese prägen.

Staats-Gläubigkeit?

Nicht zuletzt haben aber gerade auch die aggressiven Reaktionen in der Beschneidungsdebatte deutlich werden lassen, dass es in unserem Land auch so etwas gibt wie ein "geradezu panisches Unbehagen an intensiver, sichtbarer, selbstbewusster Religiosität" (J. Ross). Dem soll der Staat mit gesetzgeberischen Mitteln abhelfen, indem er alle religiösen Elemente beschneidet, die sich der Logik des postmodernen Menschen nicht ohne weiteres erschließen. Mit Hilfe einer neuen Form von Staats-"Gläubigkeit" soll Religion gezähmt werden.

Gefahren - Chancen - Perspektiven in der aktuellen Glaubenssituation
Liebe Schwestern und Brüder! Wie sollen wir nun darauf reagieren? Ich möchte einige Gefahren, Chancen und Perspektiven nennen, die sich für mich aus der Situation ergeben, in die wir aktuell hineingestellt sind:

1. Weder Innerlichkeit noch platte "Modernisierung"

Eine verständliche Reaktion hieße: Sich in den geschützten Binnenraum des Glaubens zurückzuziehen, ganz in die private Innerlichkeit zu gehen oder sich trotzig abzugrenzen gegenüber der feindlichen Welt. Ich halte diese Reaktion für eine Versuchung und eine Gefahr. Doch es gibt durchaus Einzelne und Gruppen, die diesen Weg innerhalb der Kirche praktizieren. Nicht selten verbindet er sich mit dem Pathos derjenigen, die als letzte die wahre Lehre der Kirche hochhalten. Die Internetseite "kreuz.net" war dafür nur ein besonders abstoßendes Beispiel.

Eine andere Versuchung besteht in der Vorstellung, man müsse den Glauben und die Kirche nur einem gehörigen Modernisierungsprogramm unterwerfen, dann würden beide wieder glaubwürdig und gesellschaftlich voll anerkannt.

So sehr in beiden Reaktionsweisen ein wahrer Kern steckt - es braucht die Innerlichkeit des Glaubens, und es braucht die Zeitgenossenschaft -, so sehr sind sie doch von Angst bestimmt und gefährlich in ihrer Einseitigkeit. Von Dietrich Bonhoeffer stammt die tiefsinnige Aussage: "Sammlung ohne Sendung führt zum Ghetto, Sendung ohne Sammlung zum Boulevard." Dieses Wort beschreibt exakt die Spannung, in der der Christ lebt und die er nicht auflösen darf. Beherzigen wir dieses Wort; geben wir acht, dass wir uns nicht in ein geistiges, vermeintlich frommes Ghetto hineinbegeben, das sich gegenüber den Fragen und Bedürfnissen der Menschen von heute verschließt. Aber geben wir auch acht, dass wir uns als Glaubende nicht auf dem Boulevard einer individualistisch-bunten Wohlfühlgesellschaft verlieren.

2. Angstfrei glauben...

Wir werden den - zugegeben spannungsvollen - Weg des Christseins nur gehen können, wenn wir den Mut finden, die Ängste abzulegen, die auch hinter den eben beschriebenen Reaktionsweisen stecken: unsere Angst, der christliche Glaube könnte doch nicht wahr sein; unsere Angst, belächelt oder gar verspottet zu werden; unsere Angst, im Glauben zu versagen; unsere Angst, kritisch hinterfragt zu werden und auch keine überzeugende Antwort zu wissen; unsere Angst vor unseren eigenen Glaubenszweifeln; unsere Angst ..., unsere Angst ...

Wie anders, wie angstfrei klingen dagegen die Sätze, die wir aus dem Brief an die Kolosser gehört haben. Ich habe sie deshalb auch für diesen Jahresschlussgottesdienst ausgewählt: "Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind. Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes. Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden. Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung" (Kol 1,12-15).

Immer wieder bin ich davon fasziniert, mit welcher inneren Freiheit und Freude die frühen Christen offensichtlich ihren Glauben bekannt haben. Von Gott geliebt zu sein, war ihnen nicht ein bloß gelernter Glaubenssatz, sondern existenzielle Gewissheit. Sie wussten, die Botschaft Jesu ist wahr, beglaubigt durch seine Auferweckung aus dem Tod und das sichtbare Wirken des Heiligen Geistes. Aus dieser Gewissheit heraus konnten sie nicht nur Verfolgung ertragen, sondern auch die Bestreitungen des Glaubens und den Spott. Denn auch den gab es von Anfang an. Denken wir nur an das berühmte Spottkruzifix vom Palatinhügel in Rom, bei dem der Gekreuzigte mit einem Eselskopf dargestellt ist. Wir sind beileibe nicht die erste Generation, die sich mit spöttischen, gar blasphemischen Äußerungen gegen den Glauben auseinanderzusetzen hat!

... alles Gute aufnehmen ...

Aus derselben Angstfreiheit heraus, mit der die frühen Christen Angriffe zu ertragen wussten, sind sie auch mit anderen Denkweisen, Religionen und Kulten in den Dialog getreten. Sie haben nicht ängstlich alles, was nicht christlich war, in Bausch und Bogen verteufelt. Paulus ruft die Christen sogar explizit auf: "Prüft alles, das Gute behaltet!" (1 Thess 5,21) Die Fähigkeit, ohne Ängstlichkeit mit allen in Dialog zu treten, alles zu prüfen und dann das, was aus anderen Lebensweisen, Philosophien, Kulten, Traditionen gut ist, zu behalten, das heißt in die eigene Glaubenskultur aufzunehmen, ist ein Beweis für die befreiende und integrierende Kraft des Glaubens. Ohne diese Kraft gäbe es z. B. auch das Weihnachstfest nicht am 25. Dezember. Die frühen Christen wählten dafür bekanntlich den Geburtstag des römischen "Sol invictus", des unbesiegbaren Sonnengottes, und deuteten ihn selbstbewusst um auf Christus, das wahre, unvergängliche Licht, das in diese Welt kam, um sie zu erleuchten (Joh 1,9).

... auf Jesu Christi Kraft vertrauen

Dass sich durch die Jahrhunderte der Kirchengeschichte hindurch der gnadenhafte Schwung des Anfangs abgeschwächt hat, braucht uns nicht zu verwundern. Dennoch sind wir nach wie vor der Überzeugung, dass sich die Kraft des Gottessohnes selbst und seiner Botschaft nicht abgeschwächt haben. Jederzeit dürfen und können wir daran anknüpfen.

3. Im Jahr des Glaubens...

Dazu bedarf es im Grunde nichts anderes, als uns in neuer und bewusster Weise auf diesen Glauben zu besinnen, der uns mit der Taufe geschenkt worden ist. Diesem Anliegen ist auch das Jahr des Glaubens gewidmet, das Papst Benedikt ausgerufen hat und das am 11. Oktober, dem 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, begann. Das Glaubensjahr soll nach dem Wunsch des Papstes dazu dienen, "in jedem Gläubigen das Verlangen (zu) wecke(n), den Glauben vollständig und mit erneuerter Überzeugung, mit Vertrauen und Hoffnung zu bekennen." (MotuProprio Porta Fidei, 9) Dazu empfiehlt der Papst, den Katechismus der katholischen Kirche zur Hand zu nehmen. Er ruft ihn, zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung, in Erinnerung als "ein wertvolles und unentbehrliches Hilfmittel", "um zu einer systematischen Kenntnis der Glaubensgeheimnisse zu gelangen" (Porta Fidei, 11). Natürlich kann man dazu kritisch anmerken, dass den Gläubigen doch vor aller Beschäftigung mit dem Katechismus eine verstärkte Lektüre der Heiligen Schrift ans Herz gelegt werden sollte, schließlich ist sie doch die Urkunde unseres Glaubens. Ich meine, beides ist richtig und wichtig.

... Bibel und Katechismus lesen und darüber sprechen ...

Deshalb meine Anregung: Im Jahr des Glaubens bewusster und regelmäßig die Hl. Schrift und/oder den Katechismus zur Hand zu nehmen und ganz persönlich einzelne Abschnitte darin zu lesen. Über die persönliche Lektüre hinaus ist es natürlich hilfreich, sich mit Anderen zusammen zu tun und in einen Austausch über das Gelesene zu kommen. Dadurch erschließen sich die Texte besser in der Vielfalt ihrer Perspektiven. Ich freue mich, dass es auf der Homepage unseres Bistums eine eigene Rubrik zum Jahr des Glaubens gibt, unter der sich kürzere und längere Glaubenszeugnisse von Menschen aus unserem Bistum finden und in der besondere Bildungsangebote zum Jahr des Glaubens aufgeführt sind. Es wäre schön, wenn gerade im kommenden Jahr solche Angebote verstärkt wahrgenommen würden.

... sich im Glauben weiter-bilden ...

Denn es ist doch so: Zum Christsein gehört unverzichtbar die (Weiter-)Bildung im Glauben. Sich nur auf das Hören der Sonntagspredigten und die Medienberichte über die Kirche zu verlassen, ist zu wenig! Wie will da der Glaube mit unseren Lebenserfahrungen und -fragen weiterwachsen? Es gibt so viele solide und leicht zugängliche Informationen und Seminarangebote zum Glauben. Und doch: Es ist erschreckend, wie viele - ansonsten durchaus gebildete - Menschen mit einer Art von selbst gemachtem Kinderglauben leben, der den wirklichen Fragen des Lebens natürlich nicht standhalten kann. In Abwandlung eines bekannten Wortes des Theologen Karl Rahner könnte man sagen: "Der Christ der Zukunft wird ein informierter Christ sein, oder er wird nicht sein."

... und Glauben als Beziehung leben

Trotz all dem, liebe Schwestern und Brüder, ist klar, dass der Glaube in seinem tiefsten Wesen nicht bloß ein Bildungsvorgang ist, der mich zu einer bestimmten "Weltanschauung" führt, sondern ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und jedem einzelnen Menschen. Kann ich von Herzen glauben, dass es Gott gibt und dass er ein Du ist, das sich mir liebend zuwendet? Das ist die entscheidende Frage - auch im Jahr des Glaubens. Von ihrer Beantwortung hängt es ab, ob es so etwas geben wird, wie eine neue Evangelisierung unserer selbst. Ich wünsche mir, dass unsere Diözesansynode, für die inzwischen die konkreten Vorbereitungen angelaufen sind, diesen beiden Zielen dient: der inhaltlichen Vergewisserung über unseren Glauben und einer erneuerten Freude darüber, Gott zu kennen.

Nicht Ende, sondern Beginn eines neuen Abschnitts in der Geschichte des Glaubens
Bischof Stephan Ackermann predigt zum Jahresende 2012

In seiner Ansprache zur Eröffnung des Konzils berichtete Papst Johannes XXIII., dass ihn in der täglichen Ausübung seines Amtes immer wieder Stimmen erreichen, die in den modernen Zeiten nur Unrecht und Niedergang sähen. Im Vergleich zur Vergangenheit wandele sich die Zeit dauernd zum Schlechteren, so sage man ihm. Dagegen setzt er die vielzitierte Formulierung: "Wir können diesen Unglückspropheten nicht zustimmen, wenn sie nur unheilvolle Ereignisse vorhersagen, als ob das Ende der Welt bevorstünde." Das Konzilsjubiläum sollte uns dazu anregen, diese positive Grundstimmung des seligen Johannes XXIII. aufzunehmen.

Umwälzungen - Abbrüche - Neuanfänge

Wie oft wird auch uns diagnostiziert, in Europa sei der Glaube im Unterschied zu anderen Teilen der Welt in einem unaufhaltsamen Niedergang begriffen. Ich bin nicht der Überzeugung, dass das Christentum in Europa in seine Endphase eingetreten ist. Ich bin nicht pessimistisch. Freilich, die Umwälzungen, die sich vollziehen, sind unübersehbar. Dennoch stehen wir in Deutschland und in Europa nicht am Ende des Glaubens, wohl aber am Ende einer bestimmten kirchlichen Gestalt des Glaubens. Ein solcher Vorgang ist aber nicht neu: Wie viele Umwälzungen, wie viele Abbrüche des Glaubenslebens hat es in den letzten Jahrhunderten in unseren Breiten schon gegeben und wie viele Neuanfänge!

Heute: Die Einzelnen haben die entscheidende Rolle

Vielleicht ist das Besondere diesmal, dass die Veränderungen nicht wie so oft in der Geschichte durch politische Machtwechsel, nicht durch Zwang, durch Krieg oder Gewalt herbeigeführt werden, sondern sich friedlich und allmählich vollziehen. Dabei sind wir nicht einfach die Opfer der Veränderungen, die über uns hereinbrächen, sondern wir sind selbst Handelnde in diesem Prozess. Immer weniger sind es doch die Konventionen, die uns im Glauben bestimmen. Immer mehr ist es jeder einzelne selbst, der darüber entscheidet, wie sehr er sein Leben von der Botschaft Jesu her prägen lässt und wie stark er sich an das kirchliche Leben bindet.

Nachhut oder Avantgarde des Glaubens in der modernen Gesellschaft?

Im weltkirchlichen Vergleich mag die Kirche in Westeuropa müde und schwach geworden sein. Oft genug haben wir selbst diesen Eindruck, scheinen im Vergleich mit der offensichtlichen Vitalität des Glaubens in anderen Teilen dieser Welt die Nachhut der Kirche zu sein. Doch ich glaube, dass dies bei näherem Hinsehen nicht stimmt. Ich glaube eher, dass wir uns auf vorgeschobenem Posten befinden, herausgefordert, zu zeigen, was es heißt, den Glauben in einer freiheitlichen, pluralen, von Frieden, von Wohlstand und Bildung gekennzeichneten Gesellschaft zu leben.

Für die allermeisten Menschen, auch die allermeisten katholischen Gläubigen, ist die gesellschaftliche Situation, in der wir leben, bis heute ein purer Wunschtraum. Wollten wir ihnen diesen ausreden, weil er den Glauben vor besondere Herausforderungen stellt und - geben wir es zu - auch nicht frei von Versuchungen ist? Sollen wir sagen: "Um den Glauben zu bewahren, ist es besser, wenn ihr nie in einer solchen säkularen und freiheitlichen Gesellschaft wie der unsrigen lebt." Das kann doch nicht sein! Eine solche Antwort wäre nicht nur zynisch, sie würde auch dem Glauben selbst wenig zutrauen.

Mit Mut und Phantasie - dankbar und entschieden die Situation gestalten

Liebe Schwestern und Brüder, wir sind aufgerufen, mit Mut, mit Phantasie, mit Dankbarkeit und mit neuer Entschiedenheit die Situation, in die wir hineingestellt sind, anzunehmen und sie zu gestalten. Verstehen wir unsere kirchliche Situation als ein "Laboratorium des Glaubens" (Seliger Papst Johannes Paul II.), in dem es darum geht, zeitgemäße Formen des Christseins zu experimentieren und herauszufinden. Dann gibt es keinen Grund, uns als Nachhut der Kirche zu sehen. Dann dürfen wir uns als Vorhut, als Avantgarde verstehen - nicht in einem besserwisserischen und arroganten Sinn, sondern in einem demütigem Selbstbewusstsein, das sich im Dienst am größeren Ganzen des Leibes Christi und der Gesellschaft sieht. Gerade die Erfahrungen, die wir Trierer während und im Umfeld der Heilig-Rock-Wallfahrt gemacht haben, ermutigen uns doch dazu und haben uns Fingerzeige für den weiteren Weg gegeben.

Quelle: www.bistum-trier.de

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