Abgeordnete gehen auf Tuchfühlung

Die einen stehen plötzlich im Rampenlicht, andere müssen nun in den hinteren Reihen Platz nehmen: Gestern ist der neue Bundestag zum ersten Mal zusammengetreten und hat seine neue Spitze gewählt.

Berlin. Peer Steinbrück sitzt jetzt in der neunten Reihe, wo kaum noch eine Kamera-Linse hinguckt. Auch Heidemarie-Wieczorek-Zeul hat dort Platz genommen und Wolfgang Tiefensee ebenfalls. Schweigend verfolgen die scheidenden SPD-Bundesminister das Geschehen. Die konstituierende Sitzung des neuen Bundestages an diesem Dienstagvormittag ist auch optisch eine Zeitenwende. Wer eben noch im Scheinwerferlicht glänzte, findet sich nun als Hinterbänkler wieder.

Dafür haben die kleinen Parteien an Präsenz gewonnen. Deshalb wurden Stühle abmontiert, Tische umsortiert und neue Platztelefone installiert. Das Halbrund aus insgesamt 622 Abgeordneten teilt sich nun in "Tortenstücke mit kleinen Beulen", heißt es in der Bundestagsverwaltung scherzhaft. Vor allem bei der FDP, die um ein Drittel gewachsen ist, beult es kräftig aus.

Riesenhuber will mehr Nächstenliebe im Parlament



Während fast alle Abgeordneten-Plätze besetzt sind, herrscht auf den Regierungsbänken gähnende Leere. Kein Wunder: Das neue Kabinett wird erst heute vom Bundespräsidenten vereidigt. Und die alten Kabinettsmitglieder erhalten noch am Dienstag ihre Entlassungsurkunden. Auch Angela Merkel. Im roten Samt-Jackett steht sie neben ihrem Kanzlersessel und redet auf Guido Westerwelle ein. Als der ehemalige Forschungsminister Heinz Riesenhuber mit bunter Fliege die Sitzung eröffnet, kommt Heiterkeit auf. Der CDU-Politiker ist mit 73 Jahren Alterspräsident, und was er sagt, ist ein thematischer Rundumschlag, der amüsant und manchmal auch ein bisschen peinlich wirkt. Riesenhuber philosophiert über Abgründe der Finanzwirtschaft und die Chancen neuer Technologien ("Silizium ist Sand, und Sand ist genug vorhanden"). Er fordert mehr Nächstenliebe: "Wann haben Sie Ihren Abgeordneten das letzte Mal geknuddelt?" Und er sieht ein großes Problem darin, "dass wir nicht so viele Kinder gezeugt haben wie wir es hätten tun sollen". Dabei hat die FDP-Abgeordnete Judith Skudelny aus Baden-Württemberg sogar ihr vier Monate altes Töchterchen in den Plenarsaal mitgebracht.

Während noch die Stimmen für den Bundestagspräsidenten ausgezählt werden, geben Parlamentsneulinge in der Lobby des Reichstages schon Interviews. "Das ist das erste Mal, dass sich überhaupt hier bin, und es ist mordsmäßig", schwärmt Florian Bernschneider von den Liberalen. Mit 22 Jahren ist der Betriebswirtschafts-Student aus Niedersachsen jüngster Parlamentarier im Bundestag.

Ein paar Meter weiter steht Walter Riester von der SPD. Als ehemaliger Abgeordneter hat er sich einen Platz auf der Ehrentribüne gesichert. Für Riester ist es ein ganz besonderes Datum. Auf den Tag genau vor elf Jahren wurde er als Arbeitsminister in der Regierung Gerhard Schröders vereidigt. Kommt da Wehmut auf? "Ich habe keine politischen Verpflichtungen mehr", sagt Riester. "Und das freut mich".

Sein Parteikollege Hubertus Heil ist derweil politisch stark beschäftigt. Ein paar Journalisten erklärt der SPD-Generalsekretär, dass Schwarz-Gelb keinerlei politische Konzepte habe und dass er auf die Regierungserklärung von Angela Merkel warte. Dazu wird es aber erst im November kommen.

Norbert Lammert, der alte und neue Bundestagspräsident, hat ein schlechteres Wahlergebnis eingefahren als vor vier Jahren. Doch er lässt sich nichts anmerken. Bereits im Vorfeld der Sitzung gab es Spekulationen, die SPD könne dem CDU-Mann ihre Stimme verweigern, weil deren Kandidatat Wolfgang Thierse vor vier Jahren auch ein mieses Resultat erhalten hatte. Am Ende kommt es eher umgekehrt. Lammerts 84,6 Prozent zeugen immer noch von einer breiten parteiübergreifenden Mehrheit.

Wolfgang Thierse dagegen muss sich mit 60 Prozent begnügen. Es ist das dünnste Ergebnis unter den fünf ebenfalls alten und neuen Lammert-Stellvertretern. Ganz offensichtlich haben viele Unionsleute Thierse nicht gewählt. Obwohl eigentlich die Regel gilt, dass alle Fraktionen die Personalvorschläge jeder Partei akzeptieren.

In seiner Antrittsrede hat der Parlamentschef eine unliebsame Überraschung für ARD und ZDF parat. Weil die lieber Unterhaltungsfilme wie "Schaumküsse" und "Alisa - Folge Deinem Herzen" senden anstatt die konstituierende Sitzung zu übertragen, spricht Lammert von "souveräner Sturheit". Schließlich habe das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen Informationsauftrag, dem es auch seine Gebühren-Finanzierung verdanke.

Nur ein bekanntes Gesicht bleibt der konstituierenden Bundestagssitzung fern: Oskar Lafontaine, bis vor kurzem noch Linksfraktionschef, aber weiter Abgeordneter, zieht es vor, seinen Urlaub fortzusetzen anstatt sich in Berlin zur Arbeit zu melden.

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