Abgeordnete gehen Klinken putzen

BERLIN. (fie) Unter dem Eindruck alarmierender Zahlen vom Ausbildungsmarkt hat Bundeswirtschaftsminister Michael Glos gestern Industrie, Handel, Handwerk, Gewerbe und Verwaltung nachdrücklich zu einer Ausbildungsoffensive aufgefordert.

Der CSU-Minister kündigte an, Bundeskanzlerin Angela Merkel werde in den kommenden Tagen in einem "persönlichen Brief" an die großen Unternehmen des Landes appellieren, weitere Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. "Wir müssen es schaffen, dass alle ausbildungsfähigen und ausbildungswilligen Jugendlichen bis zum 1. Oktober auch einen Ausbildungsplatz bekommen." Glos sagte am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin: "Das ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen." Er selbst habe alle Abgeordneten der Koalitionsparteien angeschrieben, mit der Bitte, in den jeweiligen Wahlkreisen zu den Betrieben zu gehen und dort "Klinken zu putzen". Lenkungsausschuss bespricht die Lage

Der Wirtschaft müsse in Einzelgesprächen klar gemacht werden, dass "alle jungen Menschen, die wir heute nicht ausbilden", auch den Unternehmen künftig nicht als qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen". Glos: "Wir werden zu Lande, zu Wasser und in der Luft um Ausbildungsplätze werben." Zuvor hatte sich am Mittwoch früh das Kabinett mit der ungünstigen Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt befasst. Es werde am 21. Juni ein Treffen mit den Spitzen von Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern geben. Außerdem stehe die Lage beim nächsten Lenkungsausschuss der Koalition auf der Tagesordnung. Ziel müsse es sein, eine Strategie zu entwickeln, auch jene vielen Unternehmen "ins Boot zu holen", die bislang nicht ausbilden. Eine wichtige Zielgruppe seien da zum Beispiel "die vielen erfolgreichen Betriebe, die von Ausländern geführt werden". Ihnen müsse die hohe Qualität des dualen Ausbildungssystems besser vermittelt werden. Glos kündigte an, dass er in seinem Ministerium und den nachgeordneten Behörden die Ausbildungsquote zügig auf elf Prozent erhöhen werde, "um ein Vorbild zu sein". Zugleich sagte der Minister, der Ausbildungspakt, den die damalige rot-grüne Regierung 2004 mit der Wirtschaft geschlossen habe, werde um drei Jahre verlängert. Erneut appellierte der Wirtschaftsminister an die Tarifparteien, "kreativ" über die Höhe der Ausbildungsvergütung nachzudenken. ,,Den jungen Leuten ist doch mit einem Ausbildungsplatz mehr gedient, als mit 100 Euro rauf oder runter im Monat." Ende Mai habe die Zahl der unvermittelten Bewerber um 46 000 höher gelegen als zum gleichen Zeitpunkt 2005. Unterdessen verspricht der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) größere Anstrengungen für ausreichend Lehrstellen in diesem Jahr. Obwohl in den Handwerksbetrieben 2006 rund 60 000 Arbeitsplätze verloren gegangen seien, werde das Handwerk alles versuchen, seine "überdurchschnittliche Ausbildungsquote" von zehn Prozent zu halten, sagte ZDH-Präsident Otto Kentzler. In einem Brief an die Bundeskanzlerin bat Kentzler zugleich darum, die Lehrstellendebatte zu versachlichen und die Dramatik aus der Diskussion zu nehmen. Es gebe viele kleinere Betriebe, die die Verantwortung für den gesamten Ausbildungsprozess nicht tragen könnten. Sie brauchten gezielt Unterstützung. Glos kündigte dazu gestern an, dass Arbeitsminister Müntefering, Bildungsministerin Schavan und er sich rasch Gedanken darüber machen wollten, wie Ausbildung für die Betriebe deutlich vereinfacht werden könnte. Es müsse kräftig entbürokratisiert, und die Ausbildungsverordnungen müssten weiter optimiert werden. Der Deutsche Städte- und Gemeindetag forderte gestern die Unternehmen auf, Jugendlichen mehr Ausbildungsplätze als bislang zur Verfügung zu stellen. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg sagte, eine wichtige Ursache für die zunehmende Gewaltbereitschaft und die Anfälligkeit für rechtsextremistisches Gedankengut sei die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher, die keinerlei Chance auf einen Ausbildungs- oder einen Arbeitsplatz sähen.

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