Aktion Da-Sein: "Wir wollten etwas zurückgeben"

TRIER. Für das familiäre Umfeld ist der Tod eines Angehörigen besonders schwer auszuhalten, wenn ein Mensch noch mitten im Leben steht und sich große Hoffnungen auf die Zukunft gemacht hat. Wie im Fall von Marianne Berg.

Für Claudia Carl (alle Namen geändert) ist der Tag, an dem ihre Schwester starb, immer präsent. Andere nennen, wenn man sie nach dem Zeitpunkt des Todes eines Angehörigen fragt, oft den Monat oder die Jahreszeit. Bei ihr hat sich der 27. August ins Gedächtnis eingebrannt, fast wie ein Geburtstag. 52 Jahre ist Marianne Berg alt geworden. Nur 52. Ein Alter, in dem viele erst so richtig anfangen wollen, zu leben. Die Kinder erwachsen, die Karriere abgeschlossen, die Finanzen geordnet: Die Pflicht ist absolviert, da bleiben noch zwanzig Jahre für die Kür, bevor das Alter seinen Tribut fordert. Wenn der Tod einfach nur ungerecht erscheint

Niemand empfindet den Tod als angebracht oder gar gerecht. Aber es gibt Biographien, da erscheint er besonders ungerecht. Marianne Berg war die älteste von neun Geschwistern. Ein Winzerbetrieb in einem kleinen Moselort, die Eltern immer kräftig eingespannt. Da wird die Älteste zur "zweiten Mutter", wie Claudia Carl es formuliert. Hauptaufgabe: Alltags-Management. Es bleibt wenig Zeit für unbeschwerte Jugendtage. Die Rolle als Integrationsfaktor der Großfamilie behält sie auch später, dazu kommt der nahtlose Übergang in die eigene Familie. Für Selbstverwirklichung ist da wenig Raum. Aber mit 50, so denkt man, ist es ja noch nicht zu spät. "Jetzt wäre endlich die Zeit gewesen, wo wir alle ihr hätten etwas zurückgeben können", sagt ihre Schwester, "und dann kam das." "Das" ist eine Krebserkrankung. 2002 wird ein Tumor diagnostiziert. Bestrahlung, Chemotherapie, die Hoffnung, die Krankheit "im Griff" zu haben. Im Herbst ist sogar ein Urlaub möglich. Dann erste Symptome eines neuen Ausbruchs, die Marianne Berg zunächst nicht zur Kenntnis nehmen will. "Es ist ihr wahnsinnig schwer gefallen, die Schwere ihrer Krankheit zu akzeptieren", sagt ihre Schwester. Marianne Berg habe immer "absolut gesundheitsbewusst gelebt", nicht geraucht, auf das Essen geachtet, erinnert sich ihr Bruder Jürgen Friedrich. Noch ein Grund, sich vom Schicksal ungerecht behandelt zu fühlen. Ein dreiwöchiger Krankenhausaufenthalt soll endgültig Klarheit bringen. Eine Zeit der Ungewissheit, das ist das Schlimmste. Jürgen Friedrich besucht seine Schwester regelmäßig und regt sich immer wieder über den Umgang der Ärzte mit der Schwerkranken auf, die er, anders als beim Pflegepersonal, oft als Abfertigung empfindet. Jürgen Friedrich ist als katholischer Pfarrer Experte in Sachen Seelsorge. Aber wenn eigene Angehörige betroffen sind, "dann kann man nicht einfach auf diese Rolle umschalten". Trotz täglicher Gespräche: Das Thema Sterben konnte er nie direkt ansprechen. Auch Claudia Carl braucht lange, bis sie den Mut hat, das Unaussprechliche gegenüber der Schwester zu thematisieren. Ein einziges, kurzes Gespräch lang wird das Tabu gebrochen. "Ich habe mir damals gesagt, jetzt sei nicht feige. Und im nachhinein bin ich darüber sehr erleichtert", betont sie heute. Marianne Berg kämpft lange und heftig. Irgendwann fällt der Begriff Palliativstation. "Bin ich jetzt so weit?", fragt sie entsetzt. Aber die Station wird dann für sie so etwas "wie ein Rettungsanker, wo man das Gefühl hat, es kann nichts passieren", erinnert sich Claudia Carl. Dreimal wird sie dort schmerztherapeutisch behandelt, zwischendurch wird sie von der Familie betreut. Der Tod zu Hause ist ein langer Prozess, geht einher mit zunehmendem Verstummen. "Lasst mich in Ruhe, aber bleibt da": So hat sich ihre Haltung in den letzten Wochen in das Gedächtnis von Claudia Carl eingeprägt. Hospizschwester Marientraud Brill kommt regelmäßig und hilft. Es sind die kleinen Dinge, die haften bleiben, wie eine Haarwäsche wenige Tage vor dem Tod. "Da haben wir noch mal viel gelacht." Wenigstens das war möglich. Marianne Berg stirbt im Kreis der Familie. Das Sterben zu Hause sei "eine schreckliche Erfahrung" gewesen, sagt Jürgen Friedrich, "aber nicht so belastend, als wenn wir das Gefühl gehabt hätten, wir hätten sie ,abgeschoben‘".

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