Am Wendepunkt: Die USA unter "Merkel-Schock"

Washington · Die kritischen Äußerungen von Kanzlerin Angela Merkel zu den transatlantischen Beziehungen stoßen in den USA auf ein geteiltes Echo.

Vom Merkel-Schock ist die Rede, von einem Wendepunkt, einer Plattenverschiebung. Unter denen, die sich nach Angela Merkels Äußerungen über den wackligen amerikanischen Verbündeten in New York, Washington oder Chicago zu Wort meldeten, gab es kaum einen, der nicht daran erinnert hätte, wie gerade auch die Amerikaner die Nato lange Zeit definierten. Nämlich mit den Worten des britischen Lords Hastings Lionel Ismay, des ersten Generalsekretärs der Allianz: Die Russen draußen halten, die Amerikaner drin und die Deutschen am Boden, darin bestehe aus (west-) europäischer Sicht der Sinn dieses Pakts.

Und jetzt, schreibt am Montag die "Washington Post”, gebe die deutsche Kanzlerin zu verstehen, dass die Amerikaner nicht mehr wirklich drin seien. Und dass, in logischer Konsequenz, Deutschland und Europa eine unabhängigere Rolle spielen müssten, als sie es in den vergangenen siebzig Jahren getan hätten. "Das ist ein enormer Wandel in der politischen Rhetorik", kommentiert das Blatt, auch wenn man einrechnen müsse, dass sich Merkel mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl in Position bringe. Ernst zu nehmen seien die neuen Töne schon deshalb, weil die deutsche Regierungschefin bekanntlich sehr vorsichtig sei und nicht dazu neige, impulsive Reden zu halten.

Amerikanische Politiker hielten sich fürs Erste mit öffentlichen Bewertungen zurück, was schlicht daran gelegen haben mag, dass das Land am Memorial Day, einem Feiertag, seiner Kriegstoten gedachte. Anders Ivo Daalder, ein früherer Nato-Botschafter der USA. "Es scheint das Ende einer Ära zu sein", zitiert die New York Times den Ex-Diplomaten, der heute einen Thinktank in Chicago leitet, den Council on Global Affairs. Die Vereinigten Staaten bewegten sich in eine Richtung, die in diametralem Gegensatz zu dem stehe, wohin sich die Europäer bewegten, beobachtet Daalder. Diese neue Realität spiegle sich in Merkels Worten. Während Donald Trump seine Europareise via Twitter zu einem großen Erfolg erklärte ("Harte Arbeit, aber große Ergebnisse!"), gehört Daalder zu denen, die widersprechen. Ein Präsident, der sich nicht eindeutig zur Beistandspflicht innerhalb der Nato bekenne, der Deutschland und andere Verbündete andauernd in Handelsfragen herunterputze und sich offenbar vom Pariser Klimaschutzabkommen verabschiede, ein solcher Präsident signalisiere, dass die USA weniger als je zuvor seit 1945 daran interessiert seien, globale Führung zu übernehmen.

"Seit 1945 haben erst die UdSSR und dann Russland versucht, einen Keil zwischen Deutschland und die Vereinigten Staaten zu treiben", twitterte die Kolumnistin Anne Applebaum, einst mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. "Dank Trump hat Putin es geschafft." Cliff Kupchan, Chef der Eurasia Group, eines auf politische Risiko-Einschätzungen spezialisierten Beratungshauses, spricht vom tiefsten transatlantischen Graben der jüngeren Vergangenheit, mindestens seit der Irak-Invasion, wenn nicht seit dem Zweiten Weltkrieg. Falls etwa das Atomabkommen mit Iran unter die Räder komme, orakelt Kupchan, sei nicht garantiert, dass sich Europa in einer gefährlichen Krise an der Seite Trumps wiederfinde. Steve Clemons, Washingtoner Bürochef der Zeitschrift "The Atlantic", sieht wiederum eine tektonische Plattenverschiebung.

Sicher werde es Leute geben, die es übertünchen, sagte Clemons bei einer Talkshow des Nachrichtensenders MSNBC. Sicher werde es Leute geben, die nun auf James Mattis hofften, auf Trumps Verteidigungsminister, der als bekennender Freund der Nato gilt. Darauf, dass der Ex-General den Riss kitte. Doch die ungeschminkte Wahrheit sei, dass der Zweifel Einzug gehalten habe im Beziehungsgeflecht der Allianz: "Es wird lange dauern, bis der Schaden repariert ist.” Trumps Strategie, fügte Clemons hinzu, sei unverantwortlich. Es sei einfach lächerlich, nach Saudi-Arabien zu reisen, um sich Goldmedaillen um den Hals hängen zu lassen, und als Nächstes Amerikas Verbündeten die Zähne auszuschlagen.

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