Amerika tappt im Dunkeln

NEW YORK. Fünf Stunden in Angst und Schrecken - so lange dauerte es, bis nach dem größten Stromausfall in der Geschichte Nordamerikas die erlösende Botschaft kam: Es handelte sich nicht um einen Terroranschlag. Den Tag danach prägten Schuldzuweisungen und Hilflosigkeit.

In den wenigen Minuten, in denen am Donnerstagnachmittag für Millionen Menschen in New York das Licht ausgeht, Fahrstühle und U-Bahnen stecken bleiben und Operationssäle dunkel werden, sitzt US-Präsident Bush beim gemütlichen Mittagessen mit Marinesoldaten im kalifornischen San Diego. Während die Fernsehsender aus den betroffenen Städten berichten und viele Menschen von der Furcht vor einer weiteren Terrorattacke im Griff gehalten werden, schweigt der Präsident. Fast fünf Stunden benötigen seine Mitarbeiter, um aus dem offenbar vorhandenen Informationschaos die Botschaft herauszufiltern, die Bush dann in einer kurzen Stellungnahme am Abend dem Volk präsentiert: "Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist die Tatsache, dass dies kein Terroranschlag war." Auch gestern stand noch nicht endgültig fest, was Millionen Menschen im Norden der USA und Kanada so pötzlich durch eine "Kettenreaktion epischen Ausmaßes", wie ein CNN-Kommentator sagte, von der Energieversorgung abgeschnitten hatte. Während Kanadas Premierminister Jean Chretien am Donnerstagabend verkündet hatte, die Wurzel allen Übels sei vermutlich ein Blitzeinschlag mit nachfolgendem Feuer in einem US-Kraftwerk nahe der Stadt Niagara Falls im Bundesstaat New York, stellte sich der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg auf den Standpunkt: "Das Ganze startete in Kanada." Eine weitere Variante präsentierte Kanadas Energieminister, der in einem US-Atomkraftwerk im Bundesstaat Pennsylvania den Auslöser des Dilemmas sah. Während am Freitag in einigen Teilen New Yorks langsam die Versorgung wieder zurückkehrte, hielt das Rätselraten an. Doch eine bittere Weisheit hatte sich bereits langsam im Bewusstsein der Betroffenen festgesetzt: Es wäre Terroristen offenbar möglich, Millionen Amerikaner vom Stromnetz abzuschneiden, selbst wenn von ihnen lediglich eine Schaltstelle der nationalen Energieversorgung lahmgelegt würde. Modernisierung der Netze unterbleibt aus Gewinnsucht

Die ebenfalls am Donnerstag geäußerte Vermutung des Präsidenten, das komplizierte wie überalterte Stromversorgungs-Netzwerk der USA bedürfe wohl einer Modernisierung, ist für Energieexperten eine Binsenweisheit. Obwohl das New Yorker Stromversorgungsunternehmen Con Edison bereits vor 15 Jahren versichert hatte, einen schwerwiegenden "Blackout" wie in den Jahren 1965 und 1977 - damals waren ebenfalls Millionen ohne Strom - werde es niemals mehr geben, waren zuletzt Warnungen vor einem neuerlichen Chaos laut geworden. Dass sich die Kettenreaktion im Norden der USA so ungehindert fortsetzen konnte, liegt nach Expertenansicht auch an Leitungen und Schaltzentralen, die teilweise schon 70 Jahre alt sind und aus dem Zeitalter stammen, in dem erstmals ein Stromaustausch zwischen benachbarten Kraftwerken technisch möglich wurde. Heute sind die privatisierten Energieunternehmen Amerikas so auf Gewinnmaximisierung getrimmt, dass größere Investitionen in die Netzwerke zumeist unterbleiben. Gestern sah deshalb so mancher Experte bei der Frage, ob es zu weiteren massiven Stromausfällen kommen werde, schwarz: "Ich wäre nicht überrascht, wenn es neue Unterbrechungen gibt", warnte jetzt der prominente US-Ökonom Irwin Stelzer.

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