Analyse: Ja zur Euro-Rettung gilt auch ohne Kanzlermehrheit als sicher

Berlin · Formal braucht die Kanzlerin heute nur die einfache Mehrheit, aber sie selbst sah das auch schon mal anders.

Berlin. Die Geschäftsordnung des Bundestages ist knapp und klar. Soweit nicht vom Grundgesetz anders bestimmt, "entscheidet die einfache Mehrheit". Und das Grundgesetz schreibt für simple Gesetze nichts anderes vor, auch nicht für das Gesetz zur "Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus", den Euro-Rettungsschirm, der heute zur Abstimmung steht. Einfache Mehrheit ist, wenn mehr Abgeordnete Ja als Nein sagen. Das könnte sogar zwei zu eins ausgehen, wenn alle anderen gerade in der Kantine sind und niemand die Beschlussfähigkeit anzweifelt. Enthaltungen zählen nicht.
Die "eigene Mehrheit" einer Koalition ist etwas anderes. Union und FDP haben derzeit 330 Sitze, das Oppositionslager 290. Unterstellt, alle Oppositionsabgeordneten wären da und würden mit Nein stimmen, dann müssten 291 Koalitionäre mit Ja votieren, um das Gesetz passieren zu lassen. Schwarz-Gelb könnte sich also locker 39 Abweichler in den eigenen Reihen erlauben - sofern die der Abstimmung fernbleiben oder mit Enthaltung stimmen. Sie dürfen nur nicht ins gegnerische Lager wechseln.
Anders ist es mit der "Kanzlermehrheit". Die "Mehrheit der Mitglieder des Bundestages", derzeit also 311 der 620 Stimmen, ist nur bei der Kanzlerwahl und anderen Großereignissen erforderlich, etwa bei der Feststellung des Verteidigungsfalles oder bei einem Beschluss zur Anklage des Bundespräsidenten.
Die Kanzlermehrheit ist eine positive Mehrheit für eine Person oder ein Thema, eine Mehrheit, die nie getoppt werden kann. Dass Merkel diese spezielle Mehrheit heute verfehlt, ist angesichts der Widerstände gegen den Euro-Kurs in den eigenen Reihen durchaus möglich. 19 Abweichler dürfen es dafür nur sein; 18 hatten sich bis gestern mit Kritik gemeldet.
Freilich findet heute eine "namentliche Abstimmung" statt. Wer gegen die Euro-Rettung stimmen oder sich enthalten will, muss das öffentlich tun. Das diszipliniert.
Ein Blick zurück: Im Dezember 2003 verfehlte Gerhard Schröder bei der Abstimmung über Hartz IV seine "Kanzlermehrheit", weil es zwölf Abweichler in den eigenen Reihen gab. Immerhin reichte es noch für die eigene Mehrheit. Zudem bestand für das Gesetz ohnehin keine Gefahr, weil die damalige Opposition aus Union und FDP ebenfalls dafür war. Das wird heute genauso sein. SPD und Grüne wollen für die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms stimmen, nur die Linken dagegen.

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