Aufgehellte Dunkelziffer

MAINZ. Die Kriminalität in Deutschland sinkt, doch niemand nimmt es wahr, stellt der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer in Studien fest. Statt eine teure "Volksberuhigungspolitik" in Sachen Sicherheit zu betreiben, fordert er vom Staat mehr Investitionen in Bildung, um die Ursachen der Kriminalität zu bekämpfen.

"In unserem Land wird nicht zutreffend über Kriminalität informiert", schrieb der frühere niedersächsische Justizminister im vergangenen Jahr an seine ehemaligen Kollegen und die Innenminister von Bund und Ländern. Auslöser der Botschaft: Als Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen sieht Pfeiffer in seinen Studien belegt, dass es in der Bevölkerung erhebliche Fehleinschätzungen über die Sicherheitslage im Land gibt. Vor allem die breite Berichterstattung der Privatsender über spektakuläre Sexualmorde oder Gewalttaten sorgen nach seinen Erkenntnissen für ein real nicht existierendes Bedrohungsszenario. Gute Aufklärungsquote wirkt abschreckend

Doch es ist kein "harmloses Verschätzen" der Bürger, wie der Rechtsprofessor bei einem Sicherheitsforum des Innenministeriums in Mainz mahnt. Aus der unzutreffenden Lageeinschätzung folgten der Ruf nach härteren Strafen und eine entsprechende Reaktion der Politik. "Sicherheitspolitik heißt zunehmend, aufgeregte Gemüter beruhigen", sagt Pfeiffer. Wenn dann noch ein Bundeskanzler wie Gerhard Schröder öffentlich zu Sexualtätern feststellt "wegschliessen - und zwar für immer", würde diesem Druck populistisch nachgegeben. Auch die Justiz könne sich dem nicht entziehen. Die Folge sind mehr Gefangene und um ein Drittel höhere Haftstrafen. Zwar gibt es auch weiter Kriminalitätsbereiche, doch sorgt laut Pfeiffers Erkenntnis etwa bei Gewalt unter Jugendlichen oder Drogendelikten vor allem eine gewachsene Anzeigebereitschaft und verstärkter Polizeieinsatz dafür, dass der frühere Dunkelziffer-Sektor aufgehellt wird. Dass die Kriminalität im Kernbereich schwerer Delikte zurück geht, folgt unter anderem aus der Vergreisung der Gesellschaft: Die Zahl der jungen Männer, die in erster Linie Straftäter sind, sinkt. Erhebliches Gewicht kommt auch der stetig verbesserten Aufklärungsquote zu, die inzwischen mit bundesweit rund 55 Prozent nach Einschätzung des Wissenschaftlers eine beträchtliche Abschreckungswirkung hat. Einen starken Rückgang der Ausländerkriminalität hat der verminderte Zuzug von Asylbewerbern und Aussiedlern bewirkt. Die Sicherheitslage ist insgesamt aus Pfeiffers Sicht durchaus gut. Doch Anlass zur Sorge gibt es auch für ihn: Jugendgewalt herrscht vor allem zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Türken und Aussiedler seien dabei überdurchschnittlich vertreten, weil Gewalt in ihrer Kultur verbreiteter sei und die Integration fehle. Komme dann noch hoher Medienkonsum durch Computer-Kampfspiele und Fernsehen dazu, wachse nachweislich bei gefährdeten Jugendlichen die Gewaltbereitschaft. Geld für Ganztagsschulen statt für einen unnötig ausgebauten Strafvollzug, lautet Pfeiffers Forderung. Zwar geht auch Ina-Maria Reize vom Fernseh-Dauerbrenner "Aktenzeichen XY ungelöst" davon aus, dass die Medienwirkung bei der Frage nach innerer Sicherheit groß ist. Doch das allgemeine Stimmungsbild habe viele Ursachen. Dazu gehöre nach ihrer Überzeugung auch ein durchaus hohes Kriminalitätsniveau in Deutschland. Übertriebene Reaktionen auf diese Entwicklung kann sie ebenso wenig sehen, wie eine Entspannung der Lage. Durch die Ost-Erweiterung der EU erwartet Reize neue Probleme. Für Polizeigewerkschafter Ernst Scharbach zählt, dass nicht unnötig dramatisiert wird. Dass Rohheitsdelikte zugenommen haben, die Korruptionbekämpfung im Argen liegt und es im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität Mängel gibt, sind für ihn schlicht Tatsachen.

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