Aufruf an die Ostdeutschen: "Lasst den Trabbi stehen!"

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein historischer Glücksfall. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff, damals Sprecher des (West-)Berliner Senats und Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD), schildert in dieser TV-Serie bis zum 12. November täglich seine persönlichen Erlebnisse rund um den Tag des Mauerfalls.

 Herbst 1989: Fahrt in eine ungewisse Zukunft. DDR-Flüchtlinge treffen mit dem Zug in Hof ein.TV-Foto: Andreas Schoelzel

Herbst 1989: Fahrt in eine ungewisse Zukunft. DDR-Flüchtlinge treffen mit dem Zug in Hof ein.TV-Foto: Andreas Schoelzel

3. November 1989, Freitag:

Seit dem Passierscheinabkommen von 1963 gibt es in (West-)Berlin und in der DDR "Besuchsbeauftragte". Unser Mann heißt Gerhard Kunze, der der DDR heißt Walter Müller. An diesem Freitag treffen sie sich. Gerhard Kunze legt der DDR-Seite eine Vorschlagsliste für zusätzliche Grenzübergänge vor, die kurzfristig hergestellt werden könnten, wenn das angekündigte Reisegesetz kommt. Vier Straßenverbindungen nach Ost-Berlin und sechs in das DDR-Umland stehen darauf. Darunter auch der Potsdamer Platz und die Glienicker Brücke, auf der einst Spione ausgetauscht wurden. Das Brandenburger Tor ist nicht dabei. Außerdem sollen mehrere U- und S-Bahnhöfe für den Reiseverkehr geöffnet werden. Müller wirkt überhaupt nicht erstaunt über unsere umfangreichen Wünsche, mit der wir die Zahl der Passierstellen, die wir früher mühsam einzeln aushandeln mussten, mit einem Schlag verdoppeln wollen. Er sagt, er werde Rücksprache halten und sich wieder melden. Ich verbreite über dieses Treffen eine Pressemeldung.

Unsere Vorbereitungen werden nun offizieller. Wir unterrichten noch einmal die Öffentlichkeit darüber, dass wir "300 000 DDR-Touristen" erwarten, und rufen die Ostdeutschen schon auf: "Lasst den Trabbi stehen". Das hat auch einen internen Grund. Die Grünen, Koalitionspartner im Senat, haben die Sorge, dass die von ihnen mühsam erkämpfte Smog-Verordnung ausgehebelt werden könnte, wenn die Reisefreiheit kommt. Die Verordnung sieht ein Fahrverbot für alle Autos in West-Berlin vor, wenn die Luftschadstoffe bestimmte Grenzwerte überschreiten. Umweltsenatorin Michaele Schreyer, später EU-Kommissarin, redet mit dem DDR-Umweltminister bereits über eine Ost und West übergreifende Regelung, die das Ziel hat, dass im Fall eines Smog-Alarms auch im Ostteil der Stadt die Trabbis stehen bleiben müssen. Das Thema Smog-Alarm wird uns ein paar Tage später noch einmal beschäftigen: Am 9. November nämlich lösen wir ihn tatsächlich aus. Aber aus ganz anderen Gründen.

Walter Momper trifft sich an diesem Freitag mit den alliierten Gesandten. Die USA, Frankreich und Großbritannien sind die Schutzmächte der Stadt, die noch immer in Sektoren aufgeteilt ist. Formal haben die alliierten Stadtkommandanten in allen Fragen der inneren und äußeren Sicherheit das Sagen. Und das, was auf uns zukommt, der Mauerfall, ist zweifellos so eine Frage. Walter Momper informiert sie über unsere Vorbereitungen. Vor allem will er eines regeln: Was machen wir, wenn Tausende von DDR-Bürgern die Reisefreiheit zur Flucht nutzen? 10 000 könnten es schon am ersten Wochenende sein, so schätzt er in dem Gespräch. Er bittet die Westmächte, "militärische Flugkapazität" zur Verfügung zu stellen, um die Menschen dann schnell nach Westdeutschland zu bringen. Denn wir können so viele Flüchtlinge nicht mehr unterbringen. Eine zweite Luftbrücke wäre das. Die Gesandten sagen, dass sie das prüfen werden. Zum Schluss geht es um die Großdemonstration, die am nächsten Tag in Ost-Berlin angesagt ist. Alle blicken mit Bangen auf dieses Ereignis. Wird es friedlich bleiben, wird die Staatsmacht sich zurückhalten? Die Gesprächspartner vereinbaren für den morgigen Samstag "engste Kommunikation".

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