Augenzeugenbericht: “Ich wünsche mir Freiheit!”

Tunis/Daun · Ein 17-jähriger Schüler aus der tunesischen Hauptstadt Tunis hat den Umsturz in seinem Land miterlebt. Seine Erlebnisse hat eine junge Verwandte, die in Daun lebt, aufgezeichnet. Ihren Bericht und Augenzeugenfotos finden Sie hier!

Es ist die Nacht des 14. Januar in Tunis, der Hauptstadt Tunesiens. Schüsse fallen, Menschen schreien, andere sterben, große Teile der Stadt brennen. Die "Jasminrevolution" hat große Auswirkungen für das gesammte tunesische Volk und die Politik.
Hier ein Bericht eines jungen Tunesiers, der alles miterlebt hat und sich wünscht in einem neu geordneten Staat zu leben.

Mein Name ist Noureddine, ich bin siebzehn Jahre alt und gehe in Tunis zur Schule. Seit 23 Jahren lebten wir hier unter der Regierung Zine el-Abidine Ben Alis, unseres ehemaligen Präsidenten, der ein sehr strenges und tyrannisches Regime führte. Unser Land litt sehr stark darunter.

Tunesien gilt im arabischen Raum als relativ wohlhabend, Tunis ist auch sehr modern und industrialisiert. Doch im Süden und in ländlicheren Gegenden ist die Lebensweise der Menschen sehr schlecht, es mangelt dort an medizinischer Versorgung und genügend Nahrung. Der Präsident interessierte sich nicht für diesen Teil der Bevölkerung.

Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit im Volk ist die immens hohe Arbeitslosigkeit, die bei den 20- bis 30-Jährigen bei über 30 Prozent liegt. Zudem gab es während der Regierung Ben Alis überall Spitzel der Polizei, wenn jemand nur einen Witz über den Präsidenten machte und dieser an die falschen Ohren geriet, wurde er sofort verhaftet. Dann in den Gefängnissen wurden die Leute geschlagen und gequält. Die Polizei stand unter der Macht Ben Alis und hat keinerlei Richtlinien für die Behandlung von Gefangenen, oder hält sich zumindest nicht daran. Leute, die verhaftet wurden und wieder frei sind, berichten, dass sie 15 Stunden ohne Essen und Trinken ausharren mussten, dass sie regelmäßig geschlagen wurden. Frauen wurden dort von der Polizei vergewaltigt. Bevor die Häftlinge entlassen wurden, zog man ihnen die Schuhe aus und brach ihnen die Füße. Bei kleineren Demonstrationen gegen die Regierung wurde früher immer dafür gesorgt, dass die Demonstranten verschwanden oder mit ihren Ideen nicht mehr an die Öffentlichkeit gingen.

Vor Kurzem verbrannte sich vor der Stadtverwaltung ein Mann namens Xar Bouazizi. Er war der Auslöser für die Revolution. Bouazizi hatte studiert, war Diplomat und trotzdem seit fünf Jahren arbeitslos. Mit seiner Tat versuchte er die Menschen und die Regierung auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen. Danach fingen Tausende an zu protestieren und sich zu wehren. Plakate mit der Aufschrift "Ben Ali degage!" (franz.: Ben Ali hau ab!) waren überall zu finden.

Die Aufstände verliefen erst wirklich ruhig und friedlich. Dennoch sandte Ben Ali Truppen, die die Demonstrierenden schlugen. Das führte jedoch nur dazu, dass immer mehr Menschen auf die Straße gingen. Anfangs richteten sich die Demonstrationen gegen die Arbeitslosigkeit im Zentrum und im Süden. Als dann die der Präsident und die Polizei auf diese Weise reagierten, richtete sich der Zorn der Bevölkerung gegen sie. Das Polizeiaufgebot wurde immer größer, die Situation immer angespannter. Es wurde eine Ausgangssperre verhängt. Als ich am 12. Januar aus der Schule kam, standen Panzer davor. Das hat mich wirklich schockiert. Dann hat auch die Polizei systematisch begonnen, Menschen zu schlagen auch wenn diese sich friedlich verhalten haben. Ich kenne ein Beispiel, bei dem 40 Menschen, während sie einen Verwanden beerdigten, ins Schussfeuer der Polizei gerieten. Unter ihnen waren Alte, Frauen und Kinder, die sicherlich, vor allem nicht in dieser Situation, Ansatze von Protest oder Gewalt gezeigt haben. Solche Vorfälle heizten die Menschen natürlich immer weiter auf.

Der 14. Januar diesen Jahres war der große Wendepunkt in der Jasminrevolution. Es gab im Stadtzentrum von Tunis eine große Demonstration, bei der natürlich wieder Polizeigewalt zum Einsatz kam. Die Familie Ben Alis versuchte über einen Flughafen zu fliehen, der Pilot weigerte sich jedoch abzuheben. Am Abend setzte sich dann auch unser - jetzt- ehemaliger Präsident ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Revolution bereits über 70 Tote gefordert. Wir waren glücklich über die Flucht und dachten das Schlimmste sei überstanden. Jedoch wurde noch alles viel schlimmer. Die Polizei, die wie erwähnt auf der Seite des Präsidenten stand, schoss auf Menschen auf der Straße und brach in Wohnungen ein, um dort ebenfalls auf die Bewohner zu schießen. Viele Häuser wurden angezündet. Zudem wurden die Gefängnisse geöffnet, die Verurteilten strömten in die Stadt.
Mittlerweile ist die Armee eingeschritten. Diese schütze uns immer gegen die gewalttätige Polizei. Es ist erstaunlich zu sehen, wie solidarisch die Menschen in so einer Situation werden. Alle organisieren sich, helfen sich gegenseitig und versuchen den Ort zu schützen.

In Ras Jebel wurden zwei der Brandstifter von Milizen geschnappt, sie bestätigten nur unsere Befürchtung, dass sie von der Polizei geschickt wurden.

Seitdem der Präsident weg ist, realisieren wir erst nach und nach, dass diese ganze Gesellschaft der letzten Jahre eine große Lüge war. In Tunesien gibt es keine Pressefreiheit, daher wurden wir einfach nicht über die schrecklichen Taten der Regierung informiert. Momentan haben wir eine Übergangsregierung, und sind sehr froh, dass wir Ben Ali los sind, auch wenn sicherlich noch viele seiner Verbündeten hier sind und Fäden in der Hand halten. Aber wir haben die Armee, die uns schützt und wir versuchen alles, ihnen dabei zu helfen. Es gibt sogar Gruppen, die sich mit Stöcken und Schwertern usw. bewaffnen um einzelne Straßen zu sichern. Eine Freundin von mir hat mir erzählt, dass sie vor Kurzem in La Marsa Polizisten begegnet ist, die auf sie geschossen haben. Sie hätte sterben können, wenn nicht die Armee eingeschritten wäre.

Ich bin nicht mehr in Tunis, dort ist es mittlerweile einfach zu gefährlich, ich bin in einem kleinen Dorf im Norden. Hier gab es auch einen ähnlichen Vorfall wie in Ras Jebel. Da wir hier nur sehr wenig Militär haben, ist die Organisation der Bevölkerung umso stärker. Tatsächlich ist es uns gelungen, vier Männer zu fassen, die versuchen wollten unsere Häuser anzuzünden. Sie waren von der Polizei oder Kriminelle, wir übergaben sie dem Militär. Wenn ich wieder zurück bin, werde ich erst Mal nach allen meinen Freunden und Bekannten suchen, ich bete, dass keiner von ihnen tot oder verwundet ist.

Ich denke, dass Ben Ali noch alles versuchen wird, um wieder an die Macht zu kommen. Doch dafür ist es zu spät und die Feindschaft ihm gegenüber vom Volk zu groß.

Wir kämpfen für eine Demokratie, und wir werden so lange kämpfen, bis wir es erreicht haben. Wenn irgendjemand versuchen wird, uns die Demokratie zu nehmen, werden die Tunesier wieder auf die Straßen gehen. Wir lassen uns nicht mehr so unterdrücken wie in den letzten Jahren, dafür sind zu viele Menschen gestorben.

Was ich aber wirklich schrecklich finde ist, dass im Ausland die Lage hier immer so verzerrt dargestellt wird. Auch wenn man auf einen Nachrichtensender einen Bericht über die Unruhen sieht, heißt es immer nur, dass Gewalt von beiden Seiten ausgeht und Islamisten für alles verantwortlich gemacht werden. Sicher es gibt Islamisten hier in Tunesien, aber sie sind in der Minderheit und man kann Tunesien im Jahr 2011 nicht mit Algerien 1990 vergleichen.

Ich wünsche mir wirklich und ich denke auch jeder hier in diesem Land, dass wir endlich eine neu geordnete Regierung bekommen, die es schafft den Arbeitsmarkt zu verbessern und mehr Chancen bietet und vor allem wünsche ich mir Freiheit, damit das Opfer Xar Bouazizis und der Tod vieler Menschen nicht umsonst war. Noureddine.

Hinweis: Aufgezeichnet von seiner 15-jährigen Cousine Alienor Bergmann aus Daun. Die Fotos von den Protesten in Tunis hat ein Freund ihres Verwandten gemacht.

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