"Bei ambulanten Pflegediensten sind unangemeldete Kontrollen nötig"

Nach Berichten über milliardenschwere Betrügereien durch osteuropäische Pflegedienste wird die Forderung nach verschärften Kontrollen lauter. Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem sieht dabei auch Handlungsbedarf bei der ohnehin anstehenden Überarbeitung des Pflege-Tüv. Mit Wasem sprach unserer Berliner Korrespondent Stefan Vetter:

"Bei ambulanten Pflegediensten sind unangemeldete Kontrollen nötig"
Foto: ARRAY(0x21a3a9500)

Herr Wasem, kommt die organisierte Kriminalität im Pflegebereich für Sie überraschend?
Jürgen Wasem: Das Ausmaß des Abrechnungsbetrugs hat mich schon überrascht, ja. Auch, dass die Kassen nichts gemerkt haben, oder nichts merken konnten. Dass das System anfällig ist für Betrug, ist allerdings nicht wirklich neu.
Der Spitzenverband der Krankenkassen klagt, die Kassen hätten keine Prüfrechte, ob die von ihnen bezahlten Leistungen korrekt erbracht würden. Wie kann das sein?
Wasem: Für den Bereich der ambulanten Versorgung haben wir es wohl tatsächlich mit einer Gesetzlücke zu tun. Bei der Versorgung daheim können nur angemeldete Kontrollen durchgeführt werden. Ehrlich gesagt, ich hätte gedacht, dass man Betrug im großen Stil auch dabei hätte merken können. Aber ganz offensichtlich sind bei den ambulanten Pflegediensten auch unangemeldete Kontrollen erforderlich. Das ist der Kern, auf den sich der Gesetzgeber konzentrieren muss.

Pflegeexperten sagen aber, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen schon mit den angemeldeten Kontrollen überfordert sei. Fehlt es an Prüf-Kapazitäten?
Wasem: Wenn man den riesigen Betrug ernsthaft angehen will, dann braucht man auch mehr Personal beim Medizinischen Dienst der Kassen. Man könnte allerdings auch die Gewerbeaufsicht stärker einschalten. Allerdings gibt es dort nach meiner Kenntnis ebenfalls schon jetzt Personalprobleme.

Mehr Prüfer kosten auch mehr Geld. Müssten dafür die Kassenbeiträge steigen?
Wasem: Wenn man hier realistische Kosten von ein paar Millionen Euro zusätzlich unterstellt, dann braucht es dazu keine Beitragserhöhung. Gegenwärtig liegt der durchschnittliche Krankenkassenbetrag bei 15,7 Prozent. Ein Zehntel eines Beitragspunktes entsprechen 1,5 Milliarden Euro. Nur, um mal die Dimension zu verdeutlichen.

Die Kassen schätzen den Schaden durch Abrechnungsbetrug auf mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr. Eine realistische Größe?
Wasem: Auch das Bundeskriminalamt geht offenbar von dieser Größenordnung aus. Gemessen an den Ausgaben für ambulante Pflege wäre das ein zweistelliger Prozentsatz an Betrug. Das ist schon gigantisch.

Auffällig ist, dass der finanzielle Schaden fast ausschließlich zulasten der Krankenversicherung und nicht der Pflegeversicherung geht. Begünstigt die Trennung beider Systeme kriminelles Handeln?
Wasem: Nein. Der Grund scheint zu sein, dass sich kriminelle Banden auf die Intensivpflege im häuslichen Bereich konzentrieren, weil sich da am meisten Geld rausholen lässt. Da geht es pro Fall um mehrere 100 Euro pro Tag. Und die werden von den Krankenkassen bezahlt.

Für die Altenpflege gibt es längst einen Pflege-Tüv, für die Krankenpflege von Pflegebedürftigen nicht. Kann das so bleiben?
Wasem: Sie haben recht, wenn Betrug im Spiel ist, dann geht das natürlich auch zulasten der Qualität der erbrachten Leistung. Durch die jüngste Pflegereform wird gegenwärtig der Pflege-Tüv für den stationären Pflegebereich, also für die Heime, überarbeitet. Das sollte angesichts der Berichte über schweren Betrug auch auf den häuslichen Bereich ausgedehnt werden. vetExtra

Gesundheitsökonom Jürgen Wasem (56, Foto: dpa) ist Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen. vet

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