Berlin verliert die Geduld mit Erdogan

Berlin · Merkel und Gabriel fordern die unverzügliche Freilassung deutscher Inhaftierter und prüfen Sanktionen gegen die Türkei.

Berlin Die Bundesregierung hat am Mittwoch ihre Tonlage gegenüber Ankara drastisch verschärft. Wegen der Festnahme des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner und anderer Aktivisten bestellte das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter formell ein und forderte ultimativ die unverzügliche Freilassung der Inhaftierten. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) unterbrach seinen Urlaub und will heute unter anderem mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über weitere Schritte beraten. Insgesamt sind derzeit neun Deutsche in der Türkei aus politischen Gründen in Haft, darunter vier mit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Die Vorwürfe gegen Steudtner nannte Außenamtssprecher Martin Schäfer "an den Haaren herbeigezogen". Wie auch in anderen Fällen sei die Verhaftung "offenbar auf politische Anordnung erfolgt", sagte Schäfer und verwies auf öffentliche Anschuldigungen von Staatspräsident Recep Erdogan gegen den seit Anfang des Jahres verhafteten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel. Schäfer sprach von einer "dramatischen Verschärfung der Lage", die Gabriel "ernsthaft" überlegen lasse, "wie es mit der Türkei weitergeht". Im Namen der Bundeskanzlerin sprach auch Regierungssprecher Steffen Seibert von einer "ernsten und traurigen Situation im deutsch-türkischen Verhältnis". Am Tag nach Steudtners Festnahme am 5. Juli hatte Merkel Erdogan beim G-20-Gipfel in Hamburg getroffen und mit ihm auch über Inhaftierungen gesprochen. Ob sie ihn da schon auf den konkreten Fall Steudtner ansprach, blieb am Mittwoch unklar. Offen ist noch, wie eine deutsche Reaktion aussehen könnte, falls Steudtner ebenso wie die anderen Festgenommen nicht freikommt. Seibert kündigte an, dass es in der EU eine Überprüfung der sogenannten Vor-Beitrittshilfen geben werde. Die Türkei ist Beitrittsanwärter zur Europäischen Union, und solchen wird Geld gezahlt, damit sie EU-Standards schneller erreichen können. Im Falle der Türkei wären das 4,5 Milliarden Euro im Zeitraum 2014 bis 2020, von denen bisher nur geringe Summen geflossen sind. "Es ist zweifelhaft, ob diese Hilfen unter den gegebenen Umständen ihr Ziel erreichen", sagte Seibert. An die Öffnung neuer Kapitel der Beitrittsverhandlungen sei gegenwärtig ohnehin nicht zu denken, ergänzte der Regierungssprecher. Das Auswärtige Amt deutete zudem eine Verschärfung seiner Reisehinweise an. "Dass man sich Gedanken machen muss, was alles passieren kann, wenn man in die Türkei reist, ist offensichtlich", sagte Schäfer. Eine solche Verschärfung der Hinweise könnte den türkischen Tourismus treffen. Mit ihren gestrigen Äußerungen kommt die Bundesregierung lauter werdenden Forderungen aus dem Bundestag entgegen. So brachte der SPD-Menschenrechtspolitiker Frank Schwabe gegenüber unserer Redaktion Wirtschaftssanktionen ins Spiel. "Das würde Erdogan richtig wehtun". Offensichtlich verhafte Erdogan jetzt willkürlich Deutsche, weil er glaube, damit Tauschgeschäfte gegen vermeintliche Gülen-Anhänger vornehmen zu können, sagte Schwabe. Die Signale, die in der letzten Zeit aus Ankara kämen, seien "so eindeutig, dass man jetzt nicht mehr irgendwelche Ängste etwa wegen des Flüchtlingsabkommens haben muss", betonte der SPD-Abgeordnete. Die türkischen Behörden hatten am Dienstag Untersuchungshaft für sechs der am 5. Juli bei einem Workshop von Amnesty International in Istanbul festgenommenen Menschenrechtsaktivisten angeordnet (siehe TV vom 19. Juli). Neben Steudtner ist auch die türkische Direktorin von Amnesty International, Idil Eser, unter den Inhaftierten. Die Staatsgewalt wirft den Betroffenen die "Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation" vor. Steudtner wird derzeit vom Generalkonsulat Istanbul konsularisch betreut, das bisher einmal Zugang zu ihm bekam. KommentarMeinung

Das Maß ist vollWenn nicht alles täuscht, dann steht der Bruch Deutschlands und der EU mit der Türkei unmittelbar bevor. Lange hat Angela Merkel gezögert, ebenso die SPD. Wegen des Flüchtlingsabkommens und wegen der europäisch-türkischen Perspektiven. Doch jetzt ist ein Punkt erreicht, wo das weniger wiegen muss. Was Erdogan betreibt, ist mittlerweile schon keine Autokratie mehr, das wird langsam eine richtige Diktatur - samt willkürlicher, politikgetriebener Justiz. Klare Sanktionen gegen Regimeverantwortliche bis hin zu Einreiseverboten und Kontensperrungen wären darauf eine richtige, weil gezielt die Herrschenden treffende Antwort. Ebenso die vorläufigen Sperrungen von EU-Zahlungen und die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen so lange, bis Erdogan seinen Kurs grundlegend korrigiert. Oder bis eine neue, demokratischere Regierung amtiert. nachrichten.red@volksfreund.de

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