Berlin verpflichtet

Natürlich werden diese zweieinhalb Seiten die Bürger Europas nicht vom Stuhl reißen. Die "Berliner Erklärung" ist kein Manifest, das die Volksmassen schwungvoll zur Europafahne greifen lassen wird.

Aber es ist ein Dokument, das zur Diskussion über unseren Kontinent herausfordert. Lehrer könnten zum Beispiel den Satz "Die offenen Grenzen und die lebendige Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Regionen bereichern uns" mit ihren Schülern erörtern und überlegen, wie viel Kriege es vor der EU in Europa gab, und wie es heute auf Kontinenten aussieht, auf denen ein ähnliches Projekt nicht existiert. Hiesige Unternehmer könnten die Aussage "Das europäische Modell vereint wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung" bedenken, wenn sie über Brüssel klagen. Und auch mancher Bürger sollte die Berliner Worte nachlesen, wenn er sich einmal wieder über die schwierigen europäischen Kompromisse ärgert. "Viele Ziele können wir nicht einzeln, sondern nur gemeinsam erreichen", heißt es in dem Text. Ja, Europa ist Geben und Nehmen, Europa ist Kompromiss. Die Langsamen müssen mit den Schnellen mitkommen, die Rückständigen mit den Fortschrittlichen. Und alle zusammen voran, denn die Konkurrenz schläft nicht. Europa, wie es heute ist, ist schon eine große politische Leistung. Aber es ist fragil und immer noch nur ein "Wimpernschlag" in der Geschichte, wie Angela Merkel sagte. Die europäische Einigung bleibt eine erstrangige Herausforderung. Die gestrige, sehr würdige, sehr zivile Zeremonie zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge kann dazu beitragen, dass diese Herausforderung vielleicht wieder mutiger angenommen wird, mit mehr positivem Denken. Von den Regierungen und von den Bürgern. Am Ort Berlin spürte man die historische Verpflichtung, die aus dem Fall der Mauer resultiert, besonders deutlich. Sie lautet: Die Spaltung des Kontinents ist überwunden, nun einigt ihn. 27 Regierungschefs können sich nicht einfach vor das Brandenburger Tor stellen und bildhaft dieses Versprechen abgeben, ohne es danach zu erfüllen. Sie können auch nicht einen solchen Text verabschieden, ohne selbst Vorbilder bei seiner Einhaltung zu sein. Die so groß und unübersichtlich gewordene EU braucht dringend eine Verfassung, und zwar bis 2009, wie es in der "Berliner Erklärung" heißt. Angela Merkel und ihren Mitarbeitern ist es mit sehr sensibler Vorarbeit gelungen, die 27 auf dieses Ziel zu verpflichten. Das war ein guter Tag für Europa. nachrichten.red@volksfreund.

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