Bessere Sicht nach dem Pulverdampf

BERLIN. Am Tag drei nach der Bundestagswahl gehen die Spekulationen in der Republik weiter: Wer wird Deutschland bald regieren? – vielleicht eine große Koalition?

Der verwirrte Bundesbürger ist gut beraten, all die politischen Sprüche und Phrasen, die ihm derzeit um die Ohren fliegen, schnell wieder zu vergessen. Die Vielzahl widersprüchlicher Aussagen, Stellungnahmen und Interviews hilft nämlich keineswegs, das Geschehen nach dieser 16. Bundestagswahl sortieren zu können. Zumal es sich bei dem Wortgeklingel der Politiker oft um reines Wunschdenken handelt.Der Kanzler möchte Kanzler bleiben, die CDU-Vorsitzende möchte Kanzlerin werden, der FDP-Chef möchte einen "Politikwechsel" bewerkstelligen - na prima, wer hätte das gedacht? Um richtig verstehen zu können, was am Sonntag passiert ist, ist es hilfreich, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie unerfreulich sein mögen.

Erstens: Die Wähler haben einem Politikwechsel Richtung Schwarz-Gelb eine Absage erteilt und stattdessen dem linken Lager aus SPD, Grünen und Linkspartei die Mehrheit gegeben (51,1 zu 45,0 Prozent).

Zweitens: Die Kombination Rot-Grün ist abgewählt worden (zusammen 42,4 Prozent).

Drittens: So genannte Ampel-Koalitionen sind theoretische Denkmodelle, die den Praxistest auf Grund der konträren politischen Ausrichtung von FDP und Grünen dauerhaft nicht bestehen können.

Viertens: Nach zuverlässigen Umfragen plädiert eine relative Mehrheit der Bürger für eine große Koalition, wobei die Kanzler-Präferenz klar bei Amtsinhaber Gerhard Schröder liegt. Apropos Schröder: Der Kanzler bewegt mal wieder die Gemüter, weil er sich trotz indirekter Abwahl als Sieger geriert und am Wahlabend reichlich "krawallig" aufgetreten ist. Dies hat zu Irritationen geführt und ist von interessierten Kreisen (und der dahinter stehenden Presse) mit Empörung kommentiert worden. Tenor: Abscheulich, dieser Machiavellismus. Schröder gehe es "nur um die Macht".

Eine Sache der Betrachtungsweise

Das ist zweifellos richtig, aber eine ziemliche Binsenweisheit - die auf andere ebenso zutrifft. Die erwähnte Betrachtungsweise lässt auch außer Acht, dass der Mensch gelegentlich zum Selbstbetrug neigt: Der eigene Anspruch ist legitim, der des anderen nicht. Wäre Schröder einer der ihren, dann würden die gleichen Leute, die ihn jetzt attackieren, in helles Entzücken ausbrechen. Genau in diesem Sinne ist die Begeisterung zu verstehen, mit der die lange Monate tief frustrierte SPD jetzt ihren engagierten Wahlkämpfer und Kanzler als Helden feiert. Schröder pokert nach seiner Aufholjagd, deren Ergebnis ihn selbst euphorisiert hat, nicht versteckt um die Macht, sondern vor aller Öffentlichkeit.

Das mag abgezockt wirken, ist aber eher Ausdruck seines Unvermögens, die halbe Niederlage einzugestehen. Halb ist die Niederlage deshalb, weil er zwar nicht wie gewünscht weiter regieren kann, aber vorerst am längeren Hebel sitzt: Er bleibt so lange im Amt, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gewählt ist. Und das wird schwierig, zumal das bürgerliche Lager über keine Mehrheit verfügt und meilenweit hinter den selbst gesteckten Erwartungen zurückgeblieben ist.

Wenn sich der Pulverdampf der Schlacht ums Kanzleramt verzogen hat, wird sich die Sicht wieder verbessern. Dann dürfte auch bei jenen Politikern, die jetzt bockig auf ihren Positionen beharren, der Realitätssinn erwachen und das Verantwortungsgefühl wachsen.

In der Konsequenz heißt das: Es wird mit einiger Wahrscheinlichkeit eine große Koalition geben, da ein wie auch immer geartetes Ampel-Bündnis den Erfordernissen der Zeit und den immensen Problemen des Landes nicht gerecht werden kann. Schließlich sind die Akteure ausdrücklich zur Neuwahl angetreten, um die politische Blockade aufzulösen. Die Reibungspunkte zwischen den erklärten Gegnern FDP und Grüne sind einfach zu groß, als dass ein gedeihliches Miteinander auf längere Sicht möglich wäre. Vor allem die grüne Basis wäre überfordert, die zuvor heftig bekämpfte "neoliberale Politik" von Union und FDP unterstützen zu müssen.

Ungeachtet der Sondierungsgespräche, die jetzt zwischen Union, SPD, FDP und Grünen beginnen, wird sich somit am Ende die Erkenntnis durchsetzen, dass eine große Koalition die vernünftigste Variante ist. Und wohl auch eine, mit der dem Land am besten gedient ist. Offen ist allerdings, von wem dieses Bündnis angeführt wird. Wenn CDU-Chefin Angela Merkel "cool" bleibt und die Ruhe bewahrt, hat sie nach wie vor die besten Chancen. Schröder pokert zwar hoch, aber selbst die eigenen Genossen wissen nicht, was sie davon halten sollen. Vielleicht weiß es der Kanzler nicht mal selbst.

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