Blut, Schreie, Magenflüssigkeit: Inventur in Hamburgs Kellerverlies

Hamburg · Wenn Serienmörder und Piraten zu Inventurhelfern werden, spielen sich bizarre Szenen ab - „Zähltag“ in Hamburgs letztem bekannten Kellerverlies.


Schauspielerin Lisa Aberer (24) hat Leichen im Keller. Wie viele es sind, weiß sie nicht genau. Sie liegen bunt verteilt an ihrem Arbeitsplatz, einem Verlies in der historischen Speicherstadt. Manche sind wie Mumien in Tücher gewickelt, manche liegen mit geöffneten Bäuchen auf Seziertischen.

Halloween das ganze Jahr: In der Grusel-Attraktion „Hamburg Dungeon“ zahlen Besucher dafür, sich sprichwörtlich zu Tode erschrecken zu lassen. Dafür gibt es im letzten bekannten Verlies der Hansestadt hauptamtliche Henkersknechte und Piraten. Den bizarrsten Job aber haben die „Inventurhelfer des Grauens“, die jedes Jahr im Januar mit Klemmbrett, Stift und Papier bewaffnet akribisch prüfen, ob noch alle Hackebeile und Blutpfützen an Ort und Stelle sind.

Bei 13 Liveshows mit echten Darstellern und zwei Fahrgeschäften, die stark an Geisterbahnen erinnern, gibt es viel zu kontrollieren: Hat auch niemand die Pestleichen verlegt? Sind noch alle Organe im Sezierraum an Ort und Stelle? Reichen Abschminktücher, Krustenblut und Kostüme für die kommenden Shows? Selbst in den Metallkäfigen im Folterkeller wird nachgemessen, ob die Abstände zwischen den Gitterstäben noch stimmen.

„Auch in London oder Berlin gibt es Show-Kerker“, sagt der Hamburger Dungeon-Leiter Andreas Köller: „Jede Stadt hat ihre eigenen Schreckenscharaktere.“ Während im Berliner Dungeon der Serienmörder Carl Grossmann sein Unwesen treibe, sei in Hamburg der gefürchtete Pirat Klaus Störtebeker einer der Stars. „Wir sind trotzdem keine Geisterbahn und kein Gruselkabinett. Wir arbeiten mit professionellen Schauspielern und erzählen wahre Geschichten“, sagt er.

Zum Beispiel die von Maria Katharina Wächtler, die im 18. Jahrhundert in Hamburg ihren gewalttätigen Ehemann zerstückelt und die Überreste in Paketen zwischen Hamburg und Lübeck verteilt haben soll. Zwei Jahre lang wurde Wächtler anschließend gefoltert, um sie zu einem Geständnis zu bewegen.

Bei ihren Shows zeigt sich die tragische Mörderin, gespielt unter anderem von Alexandra Haar (26), daher eher schlecht gelaunt: Sie wetzt Messer und Äxte und bricht als Poltergeist über Besucher herein, die es wagen, ihre Wohnung zu betreten.

Bei der Inventur zeigt sich Wächtler von einer anderen Seite - als etwas morbide, doch pflichtbewusste Erbsenzählerin: kein Schminkstift, kein Totenkopf und keine Pestleiche bleiben unprotokolliert. Unterstützt wird die Wächtler-Darstellerin von den anderen Schauspielern des Verlieses. So geschieht es, dass Freibeuter, dem Klischee nach eigentlich keine sehr reinlichen Typen, sich um den Vorrat an Fuß-Deo und Abschminktüchern sorgen. Oder dass blutverkrustete Damen nach getaner Arbeit ein Selfie im Spukhaus machen.

Am Ende lässt sich das Schreckensjahr im Speicherstadt-Verlies genau beziffern: Mehr als 14 000 Liter Magenflüssigkeit hat der „Kotzer“ im vergangenen Jahr ausgespuckt. Dahinter steht glücklicherweise kein echter Schauspieler, sondern eine mechanische Trunkenbold-Puppe. Trotz diverser größerer Blutvergießen stehen noch 48 Liter Krustenblut im Regal - und in den Räumen verteilen sich genau 83 abgehackte Köpfe und Totenköpfe.

Eine Zahl jedoch ist wichtiger als alle anderen, an ihr bemisst sich der Erfolg der Schurken, Freibeuter und Gepeinigten im Kellerverlies: die der Besucherschreie. Lisa Aberer und Alexandra Haar sind zufrieden. Ein Plus von mehr als 30 000 erfassten Besucherschreien kann sich sehen lassen. Mit insgesamt rund 295 000 markerschütternden Schreien wird amtlich, was viele bereits ahnten: 2016 war ein Schreckensjahr.

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