Bundesgerichtshof erzwingt neuen Prozess

Wie kann man nach zehn Jahren einen ziemlich komplexen und undurchschaubaren Vorgang noch juristisch korrekt bewerten? Diese Frage steht unausgesprochen hinter dem Revisionsverfahren im "Tierfett-Prozess" um den unvorschriftsmäßigen Verkauf von 8400 Tonnen BSE-gefährdetem Material in der Tierkörperbeseitigungsanstalt Rivenich.

 Das ist mittlerweile zehn Jahre her: Verhaltensgestörte Rindviecher drängen ins Bild und verursachen große Unruhe. Foto: TV-Archiv/Friedemann Vetter

Das ist mittlerweile zehn Jahre her: Verhaltensgestörte Rindviecher drängen ins Bild und verursachen große Unruhe. Foto: TV-Archiv/Friedemann Vetter

Trier. Nun sitzen sie wieder im Trierer Landgericht, der ehemalige Geschäftsführer und zwei Mitarbeiter aus dem Fuhrpark der Tierkörperbeseitigungsanstalt. 2008 hatten sie hier Monate auf der Anklagebank zugebracht, 17 Verhandlungstage, 69 Zeugenaussagen lang - bis zu ihrem Freispruch. Den hob im Jahr darauf der Bundesgerichtshof (BGH) auf. Nun geht alles von vorne los.

Es kostet ein bisschen Mühe, sich in die Zeit zurückzudenken, als die hier zu verhandelnden Vorgänge passierten. Die Angst vor dem Rinderwahnsinn diktierte 2001 das Geschehen, die Behörden überschlugen sich mit Sicherheitsmaßnahmen gegen die vermeintliche Bedrohung. Dazu gehörte auch die Anordnung, bestimmte risikobehaftete Tierabfälle wie Schädel oder Rückenmark von mehr als zwölf Monate alten Rindern nicht mehr zu verwerten, sondern speziell farblich zu kennzeichnen, dann auszusortieren und zu verbrennen.

Die Folge für die Verwertungsbetriebe lag auf der Hand: Tierfett aus verarbeitetem Nicht-Risiko-Material gewann stark an Wert. Fest steht, dass in Rivenich Risiko-Material ohne Kennzeichnung angeliefert und dann als "sauber" zu Tierfett verarbeitet und verkauft wurde. 8400 Tonnen kamen so in den Handel, die gutgläubigen Abnehmer zahlten bei 356 Lieferungen innerhalb von 14 Monaten 1,7 Millionen Euro. Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten vor, einen vorsätzlichen Betrug begangen zu haben, um ihre Tantiemen aufzubessern oder ihren Arbeitsplatz in schwierigen Zeiten zu sichern. Die Verteidigung argumentierte, angesichts des fraglos herrschenden Chaos' habe keine Betrugsabsicht vorgelegen, es habe sich schlicht um einen Fehler gehandelt. Die 3. Große Strafkammer am Landgericht befand 2008, den Angeklagten seien die Taten "nicht mit hinreichender Gewissheit" nachzuweisen.

Diese Einschätzung wird angesichts der klaren Hinweise des BGH ("Wichtige belastende Indizien sind nicht ausreichend gewürdigt worden.") so wohl nicht zu halten sein. Vor diesem Hintergrund bot der Vorsitzende Richter Albrecht Keimburg, der den Fall nun mit seiner 2. Großen Strafkammer neu aufrollen muss, beim Prozessauftakt Gespräche über eine "Verständigung" an - ein möglicher Deal, der den Strafrahmen bei einem Geständnis der Angeklagten beschränkt und allen Beteiligten eine monatelange Beweisaufnahme erspart.

Doch die Verteidiger lehnten ab. Der Grund: Auf alle Angeklagten warten im Fall einer Verurteilung riesige Schadenersatzklagen. Allein die beiden Fuhrpark-Mitarbeiter sollen mit je 1,25 Millionen Euro für die entstandenen Kosten und Verluste geradestehen. Dabei spielt das Strafmaß keine entscheidende Rolle. Eine Verurteilung etwa zu einer kleinen Bewährungsstrafe wäre zwar strafrechtlich zu verkraften, würde aber den völligen finanziellen Ruin der Verurteilten bedeuten.

Die Verteidiger zielen auf eine andere Lösung ab: Sie kündigten den Antrag an, das Verfahren gegen ihre Mandanten wegen "überlanger Dauer" einzustellen. Eine rechtlich umstrittene Konstruktion (siehe Extra).

In der Tat sind seit den Vorgängen fast zehn Jahre vergangen, teils mit intensiven Ermittlungen, teils aber auch mit dem Warten auf Gerichtstermine. Die - schon beim letzten Mal komplizierte - Beweisaufnahme wird dadurch nicht einfacher. Und doch sieht es derzeit danach aus, dass an dem erneuten Mammutprozess kein Weg vorbeiführt.

STICHWORT BSEEXTRA VERFAHRENSEINSTELLUNG



Die Tierseuche BSE, allgemein auch "Rinderwahn" genannt, führt zu einer Degeneration des Gehirns. Der erste Fall in Deutschland wurde amtlich im November 2000 festgestellt. Die Bilder "durchdrehender" Rinder aus England und der Verdacht, der Verzehr des Fleischs von BSE-kranken Tieren könne beim Menschen die ähnlich gelagerte "Creutzfeld-Jacob-Krankheit" auslösen, sorgten für heftige öffentliche Diskussionen und umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen. Die radikale vorsorgliche Schlachtung ganzer Herden, Einschränkungen bei der Verarbeitung von Schlachtabfällen zu Tierfutter und neu entwickelte Schnelltests sorgten dafür, dass die Seuche inzwischen laut UN fast komplett verschwunden ist. DiL

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Aus dem Grundgesetz und der Menschenrechts-Konvention leitet sich der Anspruch jedes Angeklagten auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren ab. Eine in Relation zur Tat und der Schuld unangemessene, außergewöhnlich lange Verfahrensdauer kann rechtswidrig sein, muss doch der Angeklagte über Jahre mit dem Damoklesschwert der möglichen Verurteilung leben. In der Praxis kommt die Einstellung aus diesem Grund aber nur in wenigen extremen Fällen vor. In der Rechtswissenschaft wird dieser Weg von der herrschenden Meinung sehr skeptisch betrachtet. DiL

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