"Das Gehirn vergisst nichts"

Würden es Jugendämter und Ärzte rechtzeitig erkennen, wenn Kinder Opfer von Misshandlung sind, gäbe es weniger Todesfälle. Das sagt der Bonner Kindermediziner Ingo Franke auf einer Tagung der Katholischen Akademie in Trier.

Trier. Es sind Bilder, die nur schwer erträglich sind. Die Fotos, die Ingo Franke an die Wand wirft, zeigen blau unterlaufene Rücken, Gesichter, Gliedmaßen, gebrochene Arme, verbrühte Hände, an denen sich die Haut abschält. Sie zeigen Kinder, die misshandelt wurden von ihren Eltern. Nicht alle Opfer haben die Qualen überlebt. Der Oberarzt der Bonner Kinderklinik schockiert die rund 50 Teilnehmer der Tagung zum Thema Kindesmisshandlung der Katholischen Akademie Trier mit Bildern von toten Kindern.

Viele dieser Kinder hätten gerettet werden können, wenn die Ärzte rechtzeitig erkannt hätten, dass sie misshandelt worden sind, lautet die These des engagierten Mediziners. "Denken Sie schmutzig", ruft er den anwesenden Ärzten zu. Sie sollten bei unerklärlichen blauen Flecken, Verletzungen oder Brüchen immer zuerst an Folgen von Misshandlung denken, auch wenn die Eltern womöglich eine andere Erklärung dafür hätten. Bei einem Säugling, der mit einem gebrochenen Oberarm ins Krankenhaus komme, gebe es meist gar keine andere Erklärung, sagt Franke. Er warnt aber gleichzeitig davor, jeden blauen Fleck als Zeichen von Misshandlung zu deuten.

Dem zehnjährigen Tim aus Bochum hätte aber womöglich viel Leid erspart werden können, wenn Jugendämter rechtzeitig erkannt hätten, dass seine alleinerziehende Mutter überfordert war und ihn vernachlässigte. Obwohl er in der Schule auffällig gewesen ist und Ärzte bei ihm Mangelernährung und eine Entwicklungsstörung diagnostiziert und dem zuständigen Jugendamt gemeldet haben, wurde dies beim Umzug der Mutter nicht dem dann zuständigen Jugendamt gemeldet.

Die Bochumer Sozialrechtsanwältin Bärbel Schönhof schildert den Fall als Beispiel dafür, dass die Jugendämter noch immer nicht genügend zusammenarbeiteten. Gleichzeitig seien den Behörden auch bei Misshandlungsverdacht die Hände gebunden. Selbst wenn ein Arzt auffällige blaue Flecke bei einem Kind feststellt und das Jugendamt informiert, die Eltern aber sagen, dass diese vom Fußballspielen seien, muss das Jugendamt nicht aktiv werden.

Die Behörden seien auf die Mithilfe der Eltern angewiesen. Verweigerten sie Hilfe, könnten die Behörden nur mit einem gerichtlichen Beschluss einschreiten, sagt Schönhof. Ein Kind könne nur dann ohne Gerichtsbeschluss aus einer Familie genommen werden, wenn unmittelbare Gefahr bestehe. Doch selbst dann bestehe keine Anzeigenpflicht. Jugendämter müssen Misshandlungsverdacht also nicht der Polizei melden. "Wir wollen in erster Linie den Familien helfen", sagt die stellvertretende Leiterin des Trierer Jugendamts, Dorothee Wassermann, die nicht glaubt, dass durch eine Anzeigenpflicht Misshandlungen verhindert werden können. "Wir brauchen mehr Personal, um auch vorbeugend Familien zu helfen."

Die Jugendämter sollten die gesamte Familie einbeziehen, sagt der Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt. Die Ursache für Misshandlung liege meist in der Familie. "Wer körperliche Misshandlung als Kind erfahren hat, schlägt später seine eigenen Kinder." Auch wenn sie nicht selbst zu Gewalttätern werden, litten die Opfer ein Leben lang an den Folgen der körperlichen, seelischen oder sexuellen Gewalt. "Das Gehirn vergisst nichts." Extra Die Katholische Akademie veranstaltet regelmäßig Tagungen zum Thema Kindesmissbrauch zusammen mit der Katholischen Ärztearbeit Deutschlands. Es könne aber sein, dass dies die letzte gewesen sei, sagt der Leiter der zweitägigen Tagung, Akademiedozent Hans-Gerd Wirtz. Hintergrund sind die Sparpläne des Bistums. Die Akademie soll bis Mitte 2011 aus Kostengründen geschlossen werden. Tausende haben sich in Unterschriftsaktionen und Eingaben dagegen gewandt. (wie)

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