Das Geschenk der Freiheit

"Wenn dieser Krieg einmal zu Ende sein sollte, dann werden die Menschen eine Zeit lang nichts von ihm hören wollen. Sie werden den Versuch machen, wenn auch auf unzulängliche Weise, zu vergessen. Das Leiden, das Grauen, sie müssen überwunden werden. Jede neue Generation tut es, und selbst die gleiche vergisst in zwei, drei Jahrzehnten. Wäre es anders, so würden keine Kriege sein."

"Wenn dieser Krieg einmal zu Ende sein sollte, dann werden die Menschen eine Zeit lang nichts von ihm hören wollen. Sie werden den Versuch machen, wenn auch auf unzulängliche Weise, zu vergessen. Das Leiden, das Grauen, sie müssen überwunden werden. Jede neue Generation tut es, und selbst die gleiche vergisst in zwei, drei Jahrzehnten. Wäre es anders, so würden keine Kriege sein." Ahnungsvolle Sätze des Schriftstellers Hans Henny Jahnn, notiert einen Monat vor dem 8. Mai 1945 – dem Tag, an dem das Großdeutsche Reich bedingungslos kapitulierte, an dem das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs in Europa endete. Vorbei der mörderische Totentanz, der mehr als 56 Millionen Opfer forderte. Weggefegt die menschenverachtende Gewaltherrschaft der Nazis mit ihren unfassbaren Perversionen. 8. Mai 1945 – für die meisten Deutschen, die Not und Elend und Chaos unmittelbar erlebten, der Tag der Niederlage, des Untergangs. Sie lagen am Boden. "Befreit" fühlten sich nur die wenigsten. Wer die Stahlgewitter überstanden hatte, verdrängte die bittere Wahrheit. Die Nazis, das waren die anderen. Eine kollektive Amnesie befiel die Deutschen. Eine kollektive Amnestie verdienten sie nicht. 8. Mai 1945 – ein Wendepunkt, eine Zäsur der deutschen Geschichte. Die Chance, von vorn anzufangen. Flugs erfanden die Überlebenden Wörter und Begriffe, die das Desaster nicht gar so schrecklich erscheinen ließen. Die "bedingungslose Kapitulation" hieß plötzlich "Zusammenbruch", es schlug die "Stunde null" – obwohl Scharen ehemaliger Nazis in Wirtschaft, Politik und Justiz, in Schulen und Universitäten ihre Karrieren nahtlos fortsetzten. Porentief rein gewaschen mit Persilscheinen. Die Deutschen West zogen einen Schlussstrich, sie sträubten sich gegen das Gewesene, sie vollbrachten das Wirtschaftswunder, sie erzwangen die Normalisierung – mit dem Nierentisch, der nie aneckte. Derweil litten die Deutschen Ost unter einem neuen Unterdrückungs-Regime. 8. Mai 1945 – ein schwieriges Datum. Die Auseinandersetzung mit den grausigen Gespenstern der eigenen Geschichte fiel lange aus. Zehn Jahre danach sprach Bundespräsident Theodor Heuss von "Kollektivscham" (aber nicht von Schuld). Erst die 68er-Generation nervte die Täterväter mit der Frage nach der Verantwortung. Und es dauerte vierzig Jahre, ehe Richard von Weizsäcker als erster Mann im Staat den Mut aufbrachte, von einem "Tag der Befreiung" zu sprechen. Und der 8. Mai 2005? Ein Tag des Erinnerns. Warum nach 60 Jahren wieder Narben aufreißen? Warum in den alten Wunden bohren? Schuld und Sühne. Täter und Opfer. Warum? Die Vergangenheit sei doch längst bewältigt, sagen viele Nachgeborene, und Deutschland eine stabile Demokratie. Die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte und ihren finalen Abgesang also ausblenden? Endgültig? Nein. Es ist richtig, an diesen Tag vor 60 Jahren zu erinnern. An dem ein Macht- und Terrorsystem zerbarst, das zwölf Jahre lang Angst und Schrecken verbreitete – und bis heute einen Schatten wirft. Es geht nicht darum, sich auf immer und ewig zu geißeln für die Verfehlungen der Vorfahren. Aber auch nicht, zu verharmlosen, zu relativieren oder zu vergessen. Wer die Vergangenheit aus dem Auge verliert, hat sich schnell verlaufen. Nur die Hälfte der Deutschen unter 24 Jahren kennt den Begriff "Holocaust", die industrielle Tötung der Juden im Dritten Reich. Über den Toren von Hitlers Vernichtungsfabriken prangte der zynische Spruch "Arbeit macht frei". In Auschwitz, in Birkenau, in Dachau – wo Hunderttausende unter barbarischer Folter starben. Der 8. Mai 1945 brachte das Geschenk der Freiheit. Erinnern macht frei. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht. Dass es nie wieder heißt, der Tod sei ein Meister aus Deutschland. p.reinhart@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort