Das große Ziel Europa weckt nur kleine Gefühle

Trier/Mainz/Brüssel · Die EU hat Fehler gemacht, die dazu führen, dass man sie nicht liebt, wie man sein Heimatdorf liebt. Nun steckt sie in einer Krise, die weit über eine Währungskrise hinausgeht. Der renommierte Mainzer Soziologe Stefan Hradil erklärt im TV-Interview, was die EU spaltet und was sie trotz allem zusammenhält. Wenig von dem, was er sagt, entspricht dem Bild, das die täglichen Krisennachrichten vermitteln.

Trier/Mainz/Brüssel. "Es werden so viele Sauen durch das europäische Dorf getrieben", sagt Stefan Hradil. Heute sorgt man sich um Zypern, morgen gibt es Streit um den Agrarhaushalt ... Doch das, was die Probleme hervorgebracht habe und was daher auch den Schlüssel zur Lösung berge - das bleibe im Verborgenen. In einer am 6. Mai beginnenden Vortragsreihe will der als Gastprofessor nach Trier eingeladene Soziologe mit einigen falschen Vorstellungen über Europa aufräumen. Unsere Redakteurin Katharina Hammermann hat vorab mit dem renommierten Mainzer Soziologen gesprochen. Herr Professor Dr. Hradil, was fühlen Sie für Europa?Stefan Hradil: Wir leben in einer Zeit, die nicht mehr von Utopien und großen Zielen geprägt ist. In einer Zeit, die sehr nüchtern geworden ist, die im Klein-Klein des politischen Alltagsbetriebs zu versinken droht. Europa ist, bei allen Schwierigkeiten, eines der wenigen wirklich großen Ziele, die viele Menschen gemeinsam verfolgen können - ein historisch wichtiges, in die Zukunft weisendes Projekt, das man trotz allen Ärgers keinesfalls beerdigen sollte. Wir erleben in der Region Trier, dass Menschen auf die Barrikaden gehen, weil ihre Verbandsgemeinde aufgelöst werden könnte. Würden sie das auch machen, wenn jemand der EU an den Kragen wollte?Hradil: Da will ich mich hinter die empirischen Daten zurückziehen. Die Leute identifizieren sich nicht so wahnsinnig mit Europa. Wem sie sich zugehörig fühlen, das ist Deutschland oder ihre Region. Europa ist es allenfalls im Zusammenhang mit nationalen Aspekten. Warum weckt Europa diese Emotionen nicht?Hradil: Es wurden Fehler gemacht. Europa ist ein Eliteprojekt, es ist demokratisch schwach verankert und viele Leute haben das Gefühl, es wird von oben betrieben. Auch wurde die emotionale Seite Europas nicht in den Vordergrund gerückt. Solche Gefühle sind natürlich auch nur sehr langsam veränderbar. Der Weg von einem nationalen Zugehörigkeitsgefühl zu einem europäischen ist lang. Und er erfordert Geduld. Das Magazin Neon entwirft im Artikel "Wir sind Europa" Ideen für eine bessere EU. Die Autoren fordern einen europäischen Feiertag, an dem alle freihaben, interessantere EU-Politiker, ein europäisches Fußballteam, eine europäische Fastfoodkette, sie fordern, dass der Gebrauch des Englischen den Dolmetscherkabinen ein Ende bereitet und Steuerfreibeträge für binationale Paare. Was wäre Ihr Vorschlag, um Europa mehr Sympathien einbringen und mehr Sex-Appeal zu verleihen?Hradil: Da sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. Mit den ersten Vorschlägen bin ich durchaus einverstanden. Das Englische ist sowieso die Sprache der Welt. Von einem Feiertag, sofern er nicht staatstragend bürgerfern ausfällt, kann man sich durchaus Erfolge versprechen. Wenn ich selbst mal weiter fantasiere: Auch europäische Krimis wären denkbar. Es mangelt ja nicht an internationaler Kriminalität. Die Euro-Krise treibt einen Keil durch Europa. Und das spüren wir Deutschen. Warum werden wir so heftig kritisiert? Hradil: Das kann man doch gut verstehen. Es hat eine Härte, wenn sie von heute auf morgen ihre Wohnung verlassen oder ihr Auto verkaufen müssen. Wenn man sich an einen bestimmten Lebensstandard gewöhnt hat, dann fällt es schwer, darauf zu verzichten. Da ist es doch verständlich, dass auf die geschimpft wird, die das einfordern. Und die Art der Kritik? Merkel mit Hitlerbärtchen, wie kommt das?Hradil: Da werden sehr alte Strukturen und Vorurteile bedient. Man sollte dann aber auch vor der eigenen Türe kehren. Bei den Kreditgeberländern werden auch Vorurteile von vorgestern reaktiviert, die genauso daneben sind. Zum Beispiel das Bild vom "faulen Griechen", das natürlich völliger Unsinn ist. Solch eine Sichtweise stellt auch ein gutes Stück deutsche Hybris dar. Stecken wir also neben der Euro-Krise auch in einer Europa-Krise? Hradil: Wir haben natürlich eine Europa-Krise - und auch eine Reihe von längerfristig wirksamen Faktoren, die Europa auseinandertreiben. Ich bin als Soziologe der halsstarrigen Meinung, dass wir uns um einige dieser Faktoren frühzeitig kümmern müssen und zwar mit ähnlicher Intensität, mit der wir uns um die Überschuldungskrise kümmern.Was treibt Europa auseinander?Hradil: Zwischen den Ländern bestehen Unterschiede, die politische Konflikte hervorrufen. Zum Beispiel bei den Familienstrukturen. Es gibt die Meinung: Typisch für Europa ist, dass wir isolierte, kleine Familien haben. Das stimmt aber nur für einen kleinen Teil Europas. In Skandinavien und Deutschland haben wir in der Tat kleine Familien, übrigens auch viele Alleinlebende und Singles. Da sind wir Weltspitze. Das heißt, wir müssen einen großen Sozialstaat haben. Denn für viele kommt als einzige Stütze nur der Staat infrage. Das ist in Mittelmeerländern deutlich anders. Die Tatsache, dass es in Spanien kein flächendeckendes Armutsbekämpfungssystem gibt, erscheint aus deutscher Sicht geradezu verrückt. Es ist sehr viel besser verständlich, wenn man weiß, dass Familien dort bis heute eine deutlich größere Rolle spielen. Und wenn die einen Länder einen großen und die anderen einen kleinen Sozialstaat brauchen, wird es schwierig mit einer gemeinsamen EU-Sozialpolitik. Welche Unterschiede machen es der EU noch schwer?Hradil: Eine weitere Meinung über Europa lautet: Die europäischen Staaten sind alle auf dem Weg zu einer postindustriellen Gesellschaft. Fabriken und Güterproduktion werden immer weniger wichtig. Wir treiben auf eine Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft zu. Schaut man sich das näher an, stimmt das nur sehr, sehr bedingt. Und das erklärt vieles von dem, was in Europa gerade passiert. Aha! Was denn?Hradil: Es gibt Länder wie Spanien oder Griechenland, die nie Industriegesellschaften waren und das merkt man bis heute. Das ist einer der Gründe dafür, dass es dort - anders als in Deutschland - so etwas wie ein duales Berufsausbildungssystem gar nicht gibt. Spanien und andere Länder sind also direkt von der Agrargesellschaft in die postindustrielle Gesellschaft übergegangen. Das äußert sich auch darin, dass sie astronomisch hohe Studierendenquoten haben. Jeder der halbwegs etwas auf sich hält, studiert. Das sind aber nicht unbedingt gute Strukturen für Länder von der ökonomischen Leistungsfähigkeit Spaniens oder Griechenlands. Und es erklärt auch die sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit, die es dort gibt. Frankreich wiederum ist immer noch ein starkes Agrarland. Es ist daher klar, wer in Europa das Agrarbudget hochhalten will. Und Deutschland?Hradil: Deutschland ist viel weniger postindustriell, als man vermuten würde. Wir haben einen relativ starken industriellen Sektor. Ich gestehe, dass auch ich früher zu den Leuten gehörte, die das für ein Manko hielten. Mittlerweile sehe ich das anders. Ein starker Industriesektor ist ein Gütegarant. Und er ist ein sehr tiefreichender Grund dafür, dass es uns in Deutschland derzeit ökonomisch gar nicht schlecht geht. Die Schere zwischen Reichen und Armen klafft immer weiter auseinander. Das ist doch sicher auch schwierig für die EU?Hradil: Im Gegenteil. Die soziale Ungleichheit wächst ja in allen Ländern. Im Inneren der einzelnen Länder hat das ein gewisses Zerreißungspotenzial. Aber es stellt die Länder Europas vor sehr ähnliche Probleme, die nur gemeinsam bekämpft werden können und die Druck ausüben auf eine gemeinsame Politik. So etwas hält Europa zusammen.Was hält die Union trotz aller Unterschiede noch zusammen?Hradil: Demografische Strukturen halten Europa zusammen, weil sie eine ganze Reihe von Konflikten ausschließen. Viele Menschen denken, dass in manchen Ländern der EU viel mehr Kinder zur Welt kommen als in anderen. Guckt man sich das genauer an, stellt man fest, dass sich die europäischen Gesellschaften demografisch gesehen ziemlich ähnlich sind. Das schafft gemeinsame Interessen, was zum Beispiel Zuwanderungspolitik betrifft. Es ist eben nicht so, dass es in Europa bestimmte Länder mit einem riesigen Auswanderungsdruck gibt, dessen man sich mit Stacheldraht erwehren müsste. Viele Leute hatten damals Angst, dass uns Polen oder Tschechen die Türe einlaufen, das Lohnniveau ruinieren, die Arbeitsplätze wegnehmen. Fast nichts davon ist wahr geworden. Im Gegenteil: Wir konnten den begrenzten Zuwachs an Arbeitskräften sehr gut gebrauchen. Genauso wird es mit Bulgarien und Rumänien sein. Sie leiden zur Zeit noch unter einem leichten Bevölkerungsüberdruck, den wir aber gut gebrauchen können, weil die geburtenschwachen Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt empfindliche Lücken hinterlassen. Ist es denn kein trennender Faktor, dass die Lebensstandards innerhalb Europas so unterschiedlich sind?Hradil: Dieser Gedanke ist zwar weit verbreitet. Wahr ist aber - und da war die EU ziemlich erfolgreich -, dass die Lebensstandards einander immer ähnlicher geworden sind. So ähnlich, dass nicht zu befürchten ist, dass viele Leute aus den neuen EU-Ländern auswandern. Ich behaupte, das wird in Bulgarien und Rumänien auch nicht passieren. Dass sich die Lebenssituationen immer stärker ähneln, hält Europa mehr zusammen, als man denken mag. Wie viel Erweiterung kann die EU denn noch vertragen?Hradil: Kommen wir gleich zur Türkei. Das ist für mich eine pragmatische und keine ideologische Frage. Natürliche Grenzen Europas gibt es schlichtweg nicht. Es ist eine Frage des Wollens und der Nützlichkeit. Die Meinung, dass die Türkei nicht zu Europa gehört, weil sie ein islamisches Land ist, steht auf einem wackligen Fundament. Es gibt schon in so vielen Ländern Europas so viele Muslime. Die Religion ist aus meiner Sicht kein Argument. Ich tanke in Luxemburg, koche mediterran, verfolge auf Facebook, was meine italienischen Freunde treiben und bin mit einem Niederländer verlobt. Wie leben Sie Europa?Hradil: Ich besuche regelmäßig eine alte Brieffreundin aus Schulzeiten in Besançon und kenne große Teile Frankreichs sehr gut vom Fahrrad aus. Ich habe mal einen Ehrendoktortitel gekriegt von der Universität in Budapest, weil ich dort mit einem niederländischen Kollegen aus EU-Mitteln das Studienfach Soziologie aufgebaut habe. Und meine Tochter hat ihren Ehemann aus England importiert, so dass meine Enkel zweisprachig aufwachsen. Extra

Alle zwei Jahre kommt auf Einladung des Freundeskreises Trierer Universität ein hochrangiger Gastprofessor nach Trier, der in einer öffentlichen Vorlesungsreihe aktuelle Themen behandelt. Zielpublikum sind dabei nicht nur die Angehörigen der Hochschule, sondern auch interessierte Bürger aus der Region. Im Sommersemester 2013 referiert der langjährige Mainzer Professor Stefan Hradil (Foto: TV-Archiv), einer der führenden Soziologen des Landes in Trier. Der frühere Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wird in drei Vorlesungen die Frage "Wie viel Unterschied verträgt Europa? - Sozialstrukturen zwischen Vereinheitlichung und Zerfall" erörtern. Die Termine: 6. Mai ("Was hält Europa zusammen?"), 3. Juni ("Was treibt Europa auseinander?") und 1. Juli ("Wohin führt Europas Weg"). Los geht es jeweils um 18.15 Uhr im Hörsaal 4. DiL/kah

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