"Das ist der Sog der Mitte"

Berlin · Der Politikexperte macht nach den jüngsten Landtagswahlen einen neuen Trend aus: Viele Nichtwähler kehren zu den etablierten Parteien zurück.

Berlin Die Wahlbeteiligung ist bei den jüngsten drei Landtagswahlen im Saarland sowie in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen durchweg gestiegen. Wie erklärt sich das wiedererwachte Beteiligungsinteresse vieler vormaliger Nichtwähler? Unser Berliner Korrespondent Stefan Vetter sprach darüber mit Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen. Herr Korte, woher rührt die gewachsene Politisierung in der Gesellschaft?Karl-Rudolf Korte Diese Repolitisierung hängt zweifellos mit den internationalen Krisenerscheinungen zusammen. Brexit, Trump, um nur zwei Stichworte zu nennen. Die Demokratie ist unter Druck geraten. Das spüren viele Menschen. Und wenn das System von innen und außen unter Druck ist, dann bringen sich auch mehr Menschen ein, um mit ihren Stimmen die Stimmung zu beeinflussen. Gerade der Aufstieg der AfD verdankt sich maßgeblich früheren Nichtwählern. Nun scheint diese Entwicklung ins Stocken geraten zu sein. Wie erklären Sie sich das?Korte Durch ein sehr lernfähiges System. Wir haben es mit konjunkturellen Nichtwählern zu tun, die sich mal mehr und mal weniger begeistern lassen. Lernfähiges System heißt außerdem, dass etablierte Parteien inhaltliche Alternativen wieder stärker herausstellen. Die AfD hat den Etablierten also Beine gemacht?Korte Wenn man so will, ja. Lernfähig heißt auch, sich bei Themen zu bedienen, die eine Partei wie die AfD als Defizit aufgedeckt hat. Man denke nur an das geschwundene Sicherheitsgefühl vieler Menschen im Zusammenhang mit der starken Fluchtbewegung. Die AfD ist Protestpartei. Dass die politische Mitte zurück ist, hängt an den traditionellen Parteien, die wieder über Inhalte kontrovers streiten. Dann ist es also mehr als nur ein landesspezifisches Phänomen, wenn fast eine halbe Million ehemalige Nichtwähler ihr Kreuzchen am Sonntag bei der NRW-CDU gemacht haben?Korte Ja, das ist ein bundesweiter Trend. Man könnte sagen, das ist der Sog der Mitte, eine Renaissance traditioneller Parteien. Viele suchen bei diesen Parteien wieder Halt, weil sie in unsicheren Zeiten Sicherheit und Orientierung versprechen. Ein Pluspunkt sind dabei neue Beteiligungsformate wie etwa Mitgliederentscheide, aber auch Personen wie Angela Merkel als Orientierungs-Autoritäten. Wie nachhaltig ist dieser neue Trend?Korte Wir haben es mit einem sehr dynamischen System zu tun. Wer meint, durch ihren guten Start ins Wahljahr könnte sich etablierte Politik zurücklehnen, der irrt. Die traditionellen Parteien sind gut beraten, zuzuhören und konkrete Gestaltungsziele zu formulieren. Nur dann nehmen diese Parteien auch Proteste auf. Das ist eine Daueraufgabe. Was wäre denn ein wählerwirksames Gestaltungsziel? Korte Der typische Wähler ist heute etwa 55 Jahre alt. Die größte Wählerschaft werden die Senioren sein. Das sind in der Regel keine Bildungsfernen, sondern Etablierte, bei denen die soziale Gerechtigkeit nicht so im Vordergrund steht, wie das etwa die SPD suggeriert. Gerade diese Wähler würden auch gern eine Perspektive wählen, die sich nicht nur um sie dreht, sondern bei der es ihren Kindern und Enkeln besser geht. Hier ist für etablierte Politik noch viel Luft nach oben. Stefan VetterInterview Rudolf Korte

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